Johann Kaspar Riesbeck







Briefe eines reisenden Franzosen

über Deutschland














Ihr Interesse rät ihnen, das Volk in dem Grad von Dummheit zu erhalten, der zu ihrem Gedeihen nötig ist, und deswegen liegen sie immer gegen alles, was gesunde Vernunft und Aufklärung heißt, mit unbeschreiblicher Wut zu Felde.


Zum erstenmal hörte ich nun das gemeine Volk verständig deutsch sprechen; denn durch ganz Schwaben, Bayern und Österreich spricht man ein Jargon, das einer, der das Deutsche von einem Sprachmeister gelernt hat, ohne besondre Übung unmöglich verstehen kann






Vorkommende Maße, Gewichte und Währungen



Drachma (Drachme) -Gewichts- und Währungseinheit, meist 4,36 g

Gulden -Silbermünze, meist 60 Kreuzer

Heller -ursprünglich Silbermünze der Münzstätte Schwäbisch Hall,
meist 1/8 Kreuzer

Klafter -Längenmaß, ca. 190 cm

Livre -französische Münze und Handelsgewicht mit 490 g

Malter - Volumeneinheit für Getreide u.a., zwischen 1,15 und 12,46 hl

Meile - meist etwa 7,5 km

Louisdor -französische Goldmünze

Pariser Klafter -ca. 195 cm

Pfenning - Kupfermünze

Pfund - Gewichtseinheit, seit 1858 500 g

Schuh (Fuß)- Längenmaß, zwischen 25 und 34 cm

Sou[s] - kleine französische Münze

Stüber -Münzeinheit zu 4 Pfennig

Stunde -Wegmaß, etwa 5 km

Taler (Joachimstaler) -Silbermünze, 1 1/3 Gulden = 90 Kreuzer

Zentner - Gewichtseinheit, heute 50 kg




Stuttgart


Hier, Lieber, habe ich mich zum erstenmal in Deutschland gelagert, um nach meiner Gemächlichkeit in die verschiedenen Teile des Schwabenlandes Ausfälle zu machen und die nötigen Kundschaften einzuziehen.


Ich habe es mir zur Regel gemacht, mir für jeden bestimmten Teil Germaniens einen gewissen Mittelpunkt zu wählen, darin einige Zeit zu verweilen und die Gegend umher mit Muße zu überschauen. Ich will Deutschland bis auf einen gewissen Grad im eigentlichsten Verstand studieren. Wer wollte aber dieses Studium bis in das sehr große Detail der sehr kleinen Staaten des deutschen Reiches, der unzähligen Grafschaften, Baronien, Republikchen und dergleichen treiben? Diesen erweiset man wahrhaftig schon zu viel Ehre, wenn man nur sagt, daß sie existieren.


Du weißt, daß ich mich eine Zeitlang in Straßburg aufhielt, um das Deutsche, welches ich schon zu Paris lesen konnte, ein wenig sprechen zu lernen und mich vorläufig mit dem Land, das ich bereisen wollte, in Karten und Büchern bekannt zu machen. Ich fand zu diesem Zweck mehr Hülfsmittel, als ich erwartete. Wahrhaftig, es ist die Schuld der deutschen Geographen und Statistiker nicht, daß man ihr Land außer demselben so wenig kennt.


Wenn du mir also ein wenig Beobachtungsgeist zutraust, so kannst du in meinen Briefen etwas mehr erwarten, als du in den Reisebeschreibungen einiger unserer Landsleute und einiger Engländer von Deutschland gesehen hast. Gemeiniglich sind dies Leute, die nur die großen Höfe besuchen. Da fahren sie die Heerstraßen her, fahren in ihren wohlverschlossenen Wagen, als wenn sie, wie Freund Yorik 1, dem Tod entfliehen wollten, brüten in dem Gewölke ihrer Ausdünstungen Grillen aus, die sie uns dann für echte Produkte des Landes geben, welches sie mit Extrapost durchreist haben, und haschen allenfalls am Stadttor, am Gasthof, bei ihrem Wechsler, bei einem Mädchen von gutem Willen, im Opernhaus oder bei Hofe ein Anekdötchen, woraus sie uns den Charakter und Geist eines Volks gar geschickt herauszuklauben wissen. Gar oft verstehen sie kein Wörtchen von der Sprache des Volkes, das sie uns schildern, und lernen einen kleinen Teil der Einwohner einer Hauptstadt, mit dem sie auf Geratewohl in Bekanntschaft kommen, durch eine fremde Sprache und eben dadurch auch in einem fremden und falschen Lichte kennen. Ein Reichsgraf oder Baron, wenn er nicht in Frankreich gebildet worden, muß Grimassen machen, wenn er mit einem Marquis französisch spricht. Jede Sprache paßt nur auf die Sitten und eigentümliche Art ihres Landes.


Man muß sich in alle Klassen des Volks mischen, das man will kennenlernen. Selten tun das die Herren, die uns ihre Reisen beschreiben; selten können sie es tun. Gemeiniglich bleiben sie in dem engen Zirkel von Leuten, in den sie von ihrem Interesse, ihrer Laune, ihrem Vergnügen, ihrem Stand usw. gezogen werden, und sehen dann alles nur einseitig an. Kurz, man muß ein studierender Reisender von Profession sein, um in das Eigentümliche eines ganzen Volks einzudringen.


Deutschland genau kennenzulernen ist ungleich schwerer als irgendein anderes europäisches Land. Hier ist es nicht wie in Frankreich und den meisten andern Ländern, wo man in den Hauptstädten sozusagen die Nation in einer Nuß beisammen hat. Hier ist keine Stadt, die dem ganzen Volk einen Ton gibt. Sie ist in fast unzählige größere und kleinere Horden zerteilt, die durch Regierungsform, Religion und andere Dinge unendlich weit voneinander unterschieden sind und kein anderes Band unter sich haben als die gemeinschaftliche Sprache.

Übrigens kennst du meine Art zu reisen. Kann ich nicht auf den öffentlichen, ordinären Fuhren, die mir der Gesellschaft wegen (und sollte sie auch nur aus Juden, Kapuzinern 2 und alten Weibern bestehen) außerordentlich lieb sind, zu Wasser oder Lande fortkommen, so bin ich meistens zu Fuße, die Ritte auf meinem Steckenpferd abgerechnet.

Auch weißt du wohl, daß ich Weltbürger genug bin, um auch außer meinem Vaterlande Gutes und Schönes zu finden und mich eben nicht höchlich darüber zu ärgern, wenn nicht alles wie bei uns ist. Im wesentlichen ist es doch so. Der Unterschied beruht bloß auf gewissen Beziehungen und Modifikationen.


Rechne also alle Woche wenigstens auf einen Brief, worin du irgendein deutsches Volk oder eine deutsche Landschaft wirst kennenlernen. - Auf einen Pack Radoterien 3, die du mitunter wirst verschlucken müssen, wird es dir nicht ankommen. Ich denke, dein Magen ist durch unsere neuesten Broschüren schon daran gewöhnt worden, und ich werde sie dir auch in kleinen Dosen eingeben. Lebe wohl.




1Held des Romans "Eine empfindsame Reise durch Frankreich und Italien" von Lawrence Sterne 1768

2in der Bevölkerung verachteter Bettelorden

3leeres Geschwätz