Wien
London ausgenommen, lieber Bruder, ist gewiß keine große Stadt so schlecht mit Gasthäusern versehen als Wien. Die wenigen Stunden, die ich nun hier bin, habe ich fast bloß mit Fluchen zugebracht. Da wies man mich in eines der berühmtesten Gasthäuser, dessen Namen ich nicht nachsprechen kann, sosehr meine Zunge auch an die wiehernde deutsche Sprache gewohnt ist. Soviel weiß ich, daß man es einen "Hof" betitelt. Da brennte man in der sogenannten Gaststube, die einem unterirdischen Gewölbe ähnlich sah, bei hellem Mittag ein Licht. Der schmutzige Kell[n]er sagte mir, alle Zimmer seien von einer Truppe Komödianten besetzt, und ich nahm meinen Weg zum "Ochsen", dem allerberühmtesten Gasthof in der Hauptstadt Wien. Da mußte ich wie auf einen hohen Turm hinaufklettern in ein schwarzes Kämmerlein, wo ich keine Luft und keine Aussicht als auf Dächer hatte. Ich fragte um den Preis dieses Loches, und da foderte man sechsundfünfzig Kreuzer des Tages. Ich lief, was ich laufen konnte, den babylonischen Turm wieder herab und fragte nach einem andern berühmten Gasthaus. Man führte mich in den "Wilden Mann", der immer noch unter die vier bis fünf ersten Gasthöfe der Kaiserstadt Wien gehört, und da habe ich nun eine Art von Gefängnis in Besitz genommen, wo ich durch mein Fenster nichts als schwarze Mauern sehe, worin, außer dem schlechten Bett, einem Tisch und Stuhl von schwarzen Tannenbrettern, nicht das geringste befindlich ist, in welches ich nur über vier bis fünf Stiegen kommen kann und das ich doch täglich mit zweiundvierzig Kreuzer oder beinahe zwei Livres unsern Geldes bezahlen muß.
Als die Rede vom Essen war, da war weder eine Table d'hôte 1 noch etwas Ähnliches im Haus. Der Keller stellte sich steif vor mich hin und nannte mir zwanzig bis dreißig Gerüchte in einem Atem so geschwinde daher, daß ich nichts unterscheiden konnte. Ich mußte es platterdings seiner Diskretion überlassen, die Speisen für mich zu wählen. Nun ging's an ein Fragen, für wieviel Kreuzer Suppe, für wieviel Gemüs, für wieviel Braten usw. ich haben wollte, als wenn man im ersten Augenblick mit dem Wert der Dinge in einer Stadt bekannt sein könnte. Ich sagte ihm nur, er soll mich nach seinem Gutbefinden füttern, und ich wollte dann alles richtig bezahlen. Zum guten Gebrauch für die Zukunft erkundigte ich mich um den Preis jeder Schüssel, wie sie mir aufgetragen wurde, und ich muß gestehn, daß alles sehr billig war. Um zwanzig bis vierundzwanzig Kreuzer kann man hier ein ziemlich gutes Mittagessen nebst einem Schoppen Wein haben. Aber die Art zu speisen ist traurig. jeder setzt sich besonders in einen Winkel, bewegt eine Zeitlang die beiden Kinnbacken und die Hände, bezahlt seine Zeche und geht fort, ohne ein Wort geredt zu haben. Man hört in der Gaststube nichts als das Scharren mit den Löffeln und das Geräusch des Kauens. Ich bin, wie du weißt, nur halb satt, wenn ich vom Tisch aufstehn muß, ohne meinen Teil geplaudert zu haben. Man sollte glauben, es sei hier eine Taxe auf das Reden gelegt. Wie verschieden von Paris! Wie lebhaft sieht es da in den Gaststuben aus! Wie bekannt tun nicht da alle Fremden und Eingebornen zusammen im ersten Augenblick, wo sie einander sehn! - An der Türe des Gastzimmers ist ein Zettel angeschlagen, worauf mit großen Buchstaben gedruckt zu lesen ist, daß der Wirt zehn Taler Strafe zu erlegen habe, wenn er auf die Fasttäge einem bekannten Katholiken Fleisch zu essen gäbe. - Ich bekam Fleisch im Überfluß, ob es schon heute Freitag ist. Der Keller nahm sich die Mühe nicht, sich um meine Religion zu erkundigen, und da tat er wohl daran.
Nach dem Essen legte ich mich ans Fenster der Gaststube, woraus ich einen großen Teil einer der gangbarsten Straßen dieser Stadt, nämlich der Kärntnerstraße, überschauen konnte. Das Gewimmel ist nicht viel geringer als das in der Gegend der Neuen Brücke zu Paris, und es sieht hier viel bunter aus. Türken, Raizen 2 , Polen, Ungarn, Kroaten und, ich glaube, auch Panduren 3 und Kosaken und Kalmucken durchkreuzen auf eine stark abstechende Art den dicken Schwarm der Eingebornen, der sich in unglaublicher Stille durch die Straße drängt. Entweder weiß man hier nichts zu reden, oder man scheut sich, laut zu reden. Wenn zwei Bekannte miteinander gehn, so lispeln sie auf der Seite einander zu, und wenn die Kutschen nicht etwas Lärmen machten, so verspürte man auch in dieser Hauptstraße bei eingeschlossenen Fenstern nichts davon, daß man in einer großen Stadt ist. Wie verschieden von Paris, London und Neapel!
Ohne Zweifel werde ich hier noch Verschiedenheit genug finden, um dich auf eine lange Zeit unterhalten und dir einen Begriff von der Hauptstadt des ganzen Deutschlandes und aller österreichischen Staaten geben zu können. Indessen, bis ich einen bessern Standpunkt, als meine hohe Felsenhöhle in diesem Gasthaus ist, bekommen werde, meine Beobachtungen anzustellen, will ich dir von meiner Fahrt von Linz hieher Nachricht geben.
Unser Schiff war nach dem Riß der Arche Noahs gebaut, ohne Fenster, durchaus verdeckt, und Menschen, Waren, Tiere und Ungeziefer ohne Unterschied durcheinander eingepackt. Was eine Art von Kajüte vorstellen sollte, war der Vorderteil. Eine hohe Lage Zuckerkisten bildeten die hintere Wand, und auf einer Seite war eine kleine Öffnung angebracht, die man ein Fenster nannte, wodurch man aber kaum sehen konnte, daß es Tag war. Mitten in dem Schiff, der Länge nach, war zur Seite auf dem Verdeck eine andre Öffnung gemacht, aber nicht um eine Taube nach einem Ölzweig ausfliegen zu lassen. -Man mußte über das ziemlich abhängige und bei einem Regen sehr schlüpfrige Verdecke mit etwas Lebensgefahr in diese Öffnung hinabsteigen, um seine Notdurft zu verrichten. Da diese Kloake keinen Ausfluß hatte und auch kein Schiffsjunge da war, sie zu reinigen, so kannst du dir leicht vorstellen, daß das ganze Schiff immerfort mit balsamischen Düften angefüllt war, besonders da es ungewöhnlich viel Leute hatte.
Ich lag die meiste Zeit ausgestreckt auf dem Dach der Arche, mußte aber die Vorsicht gebrauchen, mich auf der Spitze desselben wohl anzustemmen, um nicht durch den geringsten Stoß, den das Schiff von einem Ruderzug oder von dem Berühren des Ufers zu beförchten hatte, ins Wasser gewippt zu werden. Es ist nicht das geringste angebracht, was den Füßen einige Sicherheit geben könnte. Die herrlichen Aussichten, deren ich genoß, machten mir die Reise in etwas erträglich. Von Passau bis hieher sind die Ufer der Donau gebirgicht, und nur an sehr wenigen Orten stehn die Bergreihen, welche das Tal Österreich bilden, so weit voneinander, daß man den Zwischenraum eine Ebene heißen kann. An vielen Orten hängen sie wie abgehauene Mauern über den Fluß her. Dem ungeachtet sind diese Ufer stark bewohnt und vortrefflich angebaut. Man erblickt zwar auf denselben, von Linz bis hieher, welches achtundzwanzig deutsche Meilen beträgt, keine beträchtliche Stadt, aber eine Menge kleiner Städte und wohlgebauter Flecken und Dörfer, die alle von einem hohen Wohlstand der Einwohner sprechen.
Was den meisten Reiz für mich hatte, waren die Krümmungen des Flusses. Einigemal fuhren wir ein langes, enges Tal herab, dessen Bergabhänge aber sanft genug waren, um stufenweis bis zu den Gipfeln hinauf auf die mannigfaltigste Art angebaut zu werden. Im Hintergrund des schönen Perspektivs lag am Fuß eines steilen Berges irgendein wohlgebautes Städtchen oder ein großer Flecken, dessen Weiß mit der finstern Waldung des herüberragenden Berges stark abstach. Nun nähert sich unser Schiff nach und nach diesem Ort, welcher die ganze Aussicht schließt und auf dem Wasser zu schwimmen scheint. Wir sind nur noch einige hundert Schritte davon entfernt, ohne absehn zu können, auf welcher Seite sich der Strom aus dem Tal winden wird. Wir glauben bald an die Mauern des Städtchens zu stoßen oder in die Straßen des Fleckens einlaufen zu müssen, als sich auf einmal zu unserer Rechten ein Perspektiv von einer ganz andern Natur öffnet. In einem scharfen Winkel wendet sich der Fluß hier aus dem heitern Tale in einen engen wilden Tobel, dessen ganzen Boden er einnimmt. Es ist, als wenn man auf einmal aus dem hellen Mittag in die tiefe Dämmerung der Nacht versetzt würde. Die senkrechten und sehr hohen Berg- und Felsenwände zu beiden Seiten lassen den Tag nicht eindringen. Den Hintergrund deckt eine dicke Nacht, die kaum die Umrisse der Berghäupter an dem tiefen Blau des Himmels sehen läßt. Der Vordergrund dämmert in einem Halbdunkel, welches den Farben und Gestalten der Berge und Felsen vortrefflich zustatten kömmt. Kein Laut unterbricht die Stille, die in diesem öden Tale herrscht, als etwa der widerhallende Schlag eines Holzhauers im nahen Walde oder der Gesang eines Vogels. Wir sind nun bald am Ende des schauerlichen Perspektivs und erwarten, durch eine unterirdische Kluft aus demselben wieder an das Tageslicht zu kommen. Die Schaubühne wird immer dunkler und enger und unsere Auskunft immer rätselhafter. Mit gierigen Blicken suchen wir eine Öffnung in den Felsenwänden, worin wir ringsum eingemauert sind. Wie auf den Schlag eines Feenstabes öffnet sich nun eine lachende Landschaft zu unsrer Seite, in die wir durch einen Schlund einfahren. Unsere betroffenen Augen weiden nun auf den schönen Hügeln, dem mannigfaltigen Gehölze, den unzähligen Flecken, Schlössern und Höfen, den Weinbergen und Gärten, die sich auf eine große Strecke hin in dem Fluß spiegeln. - Auf diese Art wechselten die Aussichten immerfort ab, mit einem Abstich, der bei jeder Veränderung immer mehr erwarten ließ und immer mehr leistete, als er versprach.
Ich bestand auf dieser Fahrt zwei Abenteuer, die ich, als ich sie bloß aus dem Gerüchte kennte, nicht gegen jenes des Ritters aus der Mancha 4 in der Höhle Montesinos vertauscht hätte. Wie es aber zur Sache selbst kam, entwickelte sich der Auftritt wie jener mit den Walkmühlen, und fast schäme ich mich, dir Nachricht davon zu geben. Zu Ulm, Augsburg, München, Regensburg, Passau und Linz hörte ich so viel von einem Strudel und Wirbel, die man auf der Donau mit großer Gefahr passieren müßte, daß ich dir und der Nannette durch die Beschreibung dieser Gefährlichkeiten, die ich bestehen wollte, nicht wenig Schrecken einzujagen gedachte. Ihr könnt aber ruhig sein, lieben Kinder, wenn ich auch noch hundertmal diese Skylla und Charybdis 5 befahren müßte. Beide Plätze sind nicht so gefährlich, als es einige Gegenden in der Mosel, Maas, Rhone, Loire, im Rhein und in mehrern Flüssen von Europa sind, die demungeachtet stark befahren werden.
Verschiedene Nebenumstände erhalten den Ruf des Schreckens dieser beiden Plätze. Viele Handwerksbursche prahlen gerne damit, daß sie das Abenteuer bestanden, und vergrößern vorsätzlich die Gefahr. Andre sind einfältig genug, dieselbe für wirklich zu halten, und das Schauerliche der Landschaft und des Brausens des Wassers trägt nebst dem Vorurteil noch viel dazu bei, daß sie auf den verschrienen Stellen zittern und es ihnen düster vor den Augen wird. Nun sehn sie alles durch das Vergrößerungsglas ihrer eingebildeten Forcht und übertreiben dann ihre Beschreibung davon unvorsätzlich. Das meiste aber tun hiebei die Schiffleute. Sie bringen die Gefahr mit dem Frachtlohn in Anschlag, und wenn man an den berüchtigten Plätzen vorüber ist, so geht der Steuermann mit offenem Hut im Schiffe herum und sammelt von den Passagiers ein Trinkgeld ein, daß er sie glücklich durch die Gefahr gebracht. Es ist ihnen also daran gelegen, den Strudel und Wirbel in ihrem Kredit zu erhalten. Der Eigentümer des Schiffes, als er sah, daß ich keinen Glauben an das Gespenst hatte, gestand mir im Vertrauen, daß er sich seit den zwanzig Jahren, durch welche er nun die Donau befahren habe, keines Unglücks zu erinnern wisse, das auf diesen verschrienen Orten vorgefallen wäre.
Ungleich mehr Gefahr ist bei den vielen Holzbrücken, worunter die Schiffe durchfahren müssen. Die Joche stehn größtenteils so nahe beisammen, daß kaum für ein großes Schiff zwischen denselben Raum genug ist. Auf einem ordinären Fahrzeug, welches Güter von beträchtlichem Wert und Reisende an Bord hat, ist auch nicht viel zu beförchten, denn der Rand dieser Schiffe geht so hoch über das Wasser hinauf, daß sie beim Anstoßen nicht sogleich Wasser schöpfen können, und die Schiffleute, welche für die Waren haften müssen, sind vorsichtig genug, um sich vor Schaden zu hüten. Aber zu Stein, wo wir uns im Wirtshaus an der herrlichen Aussicht nach dem Kloster Göttweig und der Gegend umher weideten, sahen wir drei Holzschiffe nacheinander an der Brücke untergehn. Die wenigen Schiffleute, welche sie führten, sprangen in einen Kahn und suchten von der ungeheuern Menge Holz, womit die ganze Donau bedeckt war, so viel wieder aufzufangen, als sie konnten. Das Bord dieser Schiffe geht kaum einige Zoll hoch über die Oberfläche des Flusses hinauf, und bei dem geringsten Anstoß schöpfen sie auf einmal so viel Wasser, daß sie sinken müssen. Diese Holzschiffer sind arme Leute, an denen sich die Handelsleute nicht erholen können. Ihr elendes Schiff hat keinen Wert, und sie können sich im Fall des Scheiterns immer leicht auf einen Kahn retten, den sie hauptsächlich zu diesem Zweck mitnehmen. Ihrer Liederlichkeit hat man die meisten Unglücksfälle zuzuschreiben.
Auf der ganzen Reise wurden wir in den Gasthäusern ungemein gut und wohlfeil bewirtet. Von Kell[n]ern weiß man hierzulande nichts; sondern die Dienste derselben verrichten schöne junge Mädchen, die ziemlich viel guten Willen äußern, die Fremden nicht bloß zu Tische zu bedienen. Durchaus herrscht eine auffallende Reinlichkeit und ein hoher Grad von Wohlstand.
Paris fällt auf keiner Seite so schön in die Augen als die Hauptstadt Deutschlands, wenn man sich derselben auf dem Flusse nähert. In der Entfernung von einigen Stunden erblickt man zuerst den hohen St.-Stephans-Turm durch ein enges Tal, wodurch sich der Strom windet. Die Krümmungen des Tales entziehn ihn wieder dem Auge des Reisenden, der nun mit Sehnsucht die Augen nach der Gegend richtet, wo ihm die verschwundene Pyramide die Nähe der Kaiserstadt verkündet hat. Hohe Weinberge schließen dieses Tal, und zur Linken öffnet sich eine unabsehbare Ebene, worauf man einen Teil der Stadt allmählich erblickt. Zur Rechten ziehn sich die zum Teil beholzten, zum Teil berebten Berge immer noch am Ufer fort, und das königliche Kloster Neuburg vermehrt noch die Pracht der schönen Gegend. Endlich kömmt man an einen steilen Felsen, der sturzdrohend über den Fluß herüberragt. Sein Gipfel trägt ein Kloster, und an seinem Fuß liegt das schöne Dorf Nußdorf, welches man bald für eine Vorstadt von Wien halten sollte. Sobald man an diesem Felsen vorüber ist, nimmt diese Hauptstadt den ganzen Gesichtskreis vor den Augen des staunenden Fremden ein. Ihre Teile entfalten sich dem Auge um so deutlicher, da sie hie und da ziemlich weit voneinander getrennt sind und viele derselben auf merklichen Erhöhungen liegen. Die unübersehbare Masse der Gebäude, das Geräusch, welches einem entgegenhallt, und endlich die Tiefe der Aussicht in die unendlichen Häuserhaufen, wenn man sich nun wirklich zwischen den Vorstädten befindet, machten mir das Herz pochen, sosehr ich auch auf den Spruch "Nil admirari" 6 halte.
Als wir ausstiegen, ward mein Koffer am Ufer noch einmal visitiert. Es geschah ohne lästige Umstände, und man nahm sich die Mühe nicht, meine Taschen anzuschauen, die ich mit einigen konfiskablen 7 Büchern hoch angefüllt hatte. - Die ganze Reise von Linz hieher währte sechs Tage, ob man sie schon sehr gemächlich in zwei Tagen machen kann. Die Schiffleute nahmen wieder die widrigen Winde zum Vorwand; ich wußte aber wohl, daß ihre Kontrebande eigentlich schuld daran war. - Mit zwei Dukaten kann man die Reise von Regensburg hieher machen. Mit dem einen wird die Fracht und mit dem andern die Kost der Schiffleute bezahlt, welche in frischen Fischen, gesalzenem Fleisch und etwas Zugemüs besteht. Bei der guten Jahreszeit kann man auch ohne Beschwerde im Schiffe schlafen. - So wohlfeil auch diese Reise von sechsundfünfzig deutschen Meilen nach diesem Anschlag ist, so fand ich doch meine Rechnung nicht dabei. Der öftere und lange Aufenthalt des Schiffes reizte mich zu oft, auszusteigen und in den Wirtshäusern Zerstreuung zu suchen. - Wenn man das Glück hat, zu Ulm oder Regensburg Gesellschaft zu finden, so tut diese wohl, wenn sie für sich ein kleines gedecktes Fahrzeug kauft, welches man um sechzig bis siebzig Gulden immer haben kann und das für zwölf bis sechzehn Personen geräumig genug ist. Das Schiff kann zu Wien gar leicht wieder verkauft werden, und man macht dann die Fahrt von Ulm hieher in vier, fünf oder höchstens sechs Tagen, wozu ein ordinäres Schiff oft vierzehn bis achtzehn Tage braucht. Drei bis vier Schiffsjungen, die man zum Rudern mitnimmt, halten sich für gut bezahlt, wenn man ihnen zu Wien das Schiff überläßt und sie unterwegs kostfrei hält. Leb wohl.
Das war eine Arbeit, Bruder, bis ich ein Zimmer hatte! Drei ganzer Tage lief ich mit meinem Lehnlakaien in der Stadt herum, ehe ich unter Dach kommen konnte. Es ist hier nicht wie zu Paris, wo jedes Quartier ein Comptoir hat, welches dem Nachfrager Auskunft gibt, welche Wohnungen, Stuben und Kämmerchen und um welchen Preis sie zu vermieten stehn. Jeder Eigentümer heftet hier einen Zettel an die Türe seines Hauses, worauf gar umständlich zu lesen ist; welche Zimmer ledig sind. In sehr vielen Häusern hat jedes der fünf oder sechs Stockwerke seinen besondern Eigentümer, oder es hat einer eine ganze Wohnung gemietet und kann eine Stube oder eine Kammer entbehren. Nun heftet jeder seine Anzeige besonders an die Türe, die oft zur Hälfte mit solchen Zettelchen überpappt ist. Da hat einer eine ganze halbe Stunde zu lesen, ehe er im reinen ist.
Das erste Zimmer, das ich beschaute, war über vier Stiegen und gefiel mir nicht übel; aber sobald ich hörte, daß der gute Mann, der es mir vermieten wollte, ein gnädiger Herr sei, sagte ich zu meinem Lehnlakaien in unserer Sprache: "Fort! Mit einem gnädigen Herrn, der die Hälfte seiner gemieteten Wohnung vermieten will, mag ich nichts zu schaffen haben." - Nun ging's in einem andern Haus der Anzeige nach über sechs Stiegen hinauf. Als ich auf der letzten Treppe verschnauft hatte, kam ein Männchen in einem Schlafrock und mit einer Feder hinter dem Ohr aus einer niedern Türe gekrochen, welches die Magd, die ihm auf dem Fuß nachfolgte, "gestrenger Herr" betitelte. Gestrenger Herr, dachte ich bei mir, geht noch an. Ich besah die Stube und wollte eben, in Betracht der reinen Luft, die ich in dieser hohen Region atmen würde, den Kontrakt schließen, -als es mir einfiel, ein Fenster zu öffnen, um zu sehen, was ich für eine Aussicht hätte. Ich erblickte nichts als einige gegenüberstehende Dächer und Schornsteine, denn das gebrochne Dach unter meinem Fenster deckte die ganze Straße für mich. - "Weiter", sagte ich; und nun nahmen wir denselben Tag wenigstens noch sechs Stuben in Augenschein, wovon mir aber keine behagte. Unter andern kamen wir auch zu einer Exzellenz oder - ich will die Wahl haben - zu einer Magnifizenz, denn einen ähnlichen Klang hatte die Titulatur, welche gar auf dem Parterre eines Hintergebäudes wohnte und mit welcher ich die faule Luft, die sie einatmete, nicht teilen wollte. Des andern Tages ward das große Werk der Stubenmiete mit einer gnädigen Frau eröffnet, die ihrer Fräulein Tochter so viel mit mir zu schaffen machen wollte, daß ich unmöglich meine Einwilligung dazu geben konnte. "Sehen Sie", sagten Ihre Gnaden, "meine Tochter bringt Ihnen alle Morgen selbst den Kaffee. Wollen Sie abends Tee, so wird Ihnen meine Tochter selbst damit aufwarten. Wollen Sie uns manchmal in die Komödie begleiten, so steht ihnen, wenn's Ihnen zu spät ist, zum Traiteur 8 zu gehn, unsere kalte Küche zu Befehl" usw. Du mußt wissen, daß es in Deutschland nicht wie bei uns ist, wo es ein ehrbares Frauenzimmer für eine Beleidigung hielte, wenn ihm ein Mannsbild, mit dem es keine besondere Verbindung hat, das Entree in ein Schauspiel bezahlen wollte. Hierzulande ist es eine Schuldigkeit, das Frauenzimmer, welches man irgendwohin begleitet, freizuhalten. Ich merkte wohl, daß die Dienste des schönen Fräuleins schon im Preis des Zimmers angeschlagen waren und daß man noch verschiedene Nebengefälle von mir erwartete. Also weiter. - Nachdem ich mich diesen Tag müde gelaufen, überzeugte ich mich, daß ich in der Stadt selbst meine Konvenienz 9 nicht finden würde. Die gernächlichern Wohnungen, die etwas freie Luft und Aussicht genießen, sind hier ungleich teurer als zu Paris. Es kann wohl nicht anderst sein; denn beinahe der dritte Teil der Einwohner Wiens, im ganzen genommen, wohnt in der eigentlichen Stadt, welche doch kaum den sechsten Teil des ganzen Umfanges einnimmt. Die Vorstädte sind auf sechshundert Schritte von der Stadt selbst entfernt, und die Entlegenheit und ihre Weitläuftigkeit sind Ursache, daß sich das Volk zwischen den Wällen der alten Stadt, als dem Mittelpunkt des Gewerbes und der ganzen Bewegung der ungeheuern Maschine, so unmäßig zusammendrängt. Die meisten Vorstädte von Paris sind nicht viel weniger bewohnt als die Stadt selbst, aber hier sehen viele wie Dörfer aus. Eine andre Ursache des hohen Preises der bessern Wohnungen in der Stadt ist, daß das zweite Stockwerk von jedem Haus dem Hof zugehört, welcher es seinen Bedienten einräumt. Für eines der bessern Zimmer in einer gangbaren Straße foderte man sechs bis acht Gulden den Monat oder ohngefähr sechzehn bis zwanzig Livres und für das schlechteste, unter dem Dache, drei Gulden. - In der Vorstadt Mariahilf, einer der gesundesten Gegenden der Stadt, fand ich nach einigen Umfragen den dritten Tag ein sehr gemächliches und luftiges Zimmer um drei Gulden den Monat, das seine sehr schöne Aussicht hat und welches ich gegen keines derjenigen, die ich in der Stadt beschaut, vertauschen würde.
Ohne große Beschwerde kann ich nun freilich nicht in die Stadt kommen. Während daß man zu Paris ewig im Kot herumwatet, möchte man hier beständig im Staub ersticken. Wien steht den trockenen Ost- und Nordwinden offen und ist von nahen Bergen gegen die Süd- und Westwinde gedeckt, da hingegen Paris von den letztern zuviel befeuchtet wird. Wenn es hier eine ganze Nacht geregnet hat, so ist einige Stunden nach Aufgang der Sonne alles wieder aufgetrocknet, und gegen Mittag steigen schon wieder die Staubwolken empor. Regnet es den Tag über, so ist während dieser Zeit wegen des vielen Staubes der Kot entsetzlich tief. Nun muß ich, wenn ich in die Stadt will, über die weite und öde Ebene, welche sie von ihren Vorstädten trennt, wo die Fußgänger meistens gezwungen sind, den Mund und die Nase mit einem Tuch zu verstopfen, um nicht vom Staub erstickt zu werden. Man fährt hier durchaus, auch mit den Fiakern, im stärksten Trott oder im Galopp, und da der Weg nach Schönbrunn unter meinem Fenster vorübergeht, so gehört viel Vorsicht und noch etwas Glück dazu, um mit verstopftem Munde durch das Staubgewölke durchzukommen, ohne überfahren zu werden oder mit dem Kopf an einen andern Fußgänger anzurennen.
Der Raum zwischen der Stadt und den Vorstädten gibt im Fall einer Belagerung der Festung freies Spiel; aber es ist höchst unwahrscheinlich, daß dieser Fall je wieder kommen werde. In neuern Zeiten waren die Türken die einzigen, die ihre Siege bis vor die Tore dieser Hauptstadt verfolgen konnten, und selbst der König von Preußen konnte auch nach den glücklichsten Schlachten nicht weit gegen dieselbe eindringen. Die Macht des Kaisers ist nun jener der Pforte 10 so überlegen, daß ich glaube, der hiesige Hof unterhält die Festungswerke hauptsächlich in der Absicht, um die Stadt selbst im Zaum zu halten. Ohne einer Menge Familien zu schaden, könnten sie auch nicht geschleift werden, denn durch die Bebauung des leeren Raumes vor den Wällen würde der Wert der Häuser in der Stadt wenigstens um die Hälfte fallen. Nun gibt es viele Wohnhäuser von 2- bis 300.000 Gulden Wert, die das ganze Kapital ihrer Eigentümer ausmachen, und jeder, der in der Stadt selbst ein schuldenfreies Haus besitzt, ist ein reicher Mann. Das Haus des Buchhändlers von Trattner trägt jährlich gegen 30.000 Gulden oder beinahe 80.000 Livres an Zinsen ein. Die Vorteile, die für die Gesundheit und Gemächlichkeit der sämtlichen Einwohner daraus entspringen, wenn die Stadt bis an die Vorstädte erweitert und der gedrängte Haufen der Einwohner verdünnert würde, sind so beträchtlich eben nicht, daß sie den Schaden aufwögen, den die Eigentümer der Häuser durch diese Veränderung leiden müßten.
Seit einigen Tagen lief ich nach meiner Art die Kreuz und die Quere durch die Stadt, um mir einen Begriff von ihren Hauptteilen und ihrer Größe zu machen. Von dem äußersten Ende der Vorstadt Wieden bis an das Ende der Leopoldstadt, die nur von einem schmalen Arm der Donau von der Stadt selbst getrennt wird und größer als diese ist, hatte ich fast zwei Stunden zu gehn. Von der Vorstadt Roßau an bis zu Ende der Vorstadt-Landstraße brachte ich beinahe anderthalb Stunden zu. Der Umfang von Wien beträgt also weit mehr als der von Paris. Der Vorstädte sind etlich und dreißig, aber viele Gegenden in denselben sind öde, und einige hundert Gärten, worunter kaum drei bis vier sehenswürdige sind, nehmen fast den dritten Teil ihres Umfangs ein. Die volkreichsten Vorstädte sind die Roßau, die Josephsstadt, St. Ulrich, Mariahilf und ein Teil der Wieden und der Leopoldstadt. Die größte von allen nach der Leopoldstadt ist die Wieden, und die Einwohner eines Teils derselben haben viel Ähnlichkeit mit denen in St. Marcel zu Paris.
In der Stadt sind kaum acht Gebäude, die man schön oder prächtig heißen könnte. Unter denselben nehmen sich der Liechtensteinische Palast, die kaiserliche Bibliothek und die Reichskanzlei vorzüglich aus. Die kaiserliche Burg ist ein altes schwarzes Gebäude ohne Schönheit und Pracht. Alles übrige ist eine geschmacklose Felsenmasse, die bis auf die Gipfel fünf, sechs bis sieben Stockwerk hoch ausgehöhlt ist, um soviel Einwohner als möglich zu fassen. Es gibt hier kaum drei Plätze, die etwas Figur machen. Diese sind der Hof, der Graben und der Neumarkt. Das größte Gedränge ist von der kaiserlichen Burg an über den Kohlmarkt, den Graben, den Stockameisenplatz und durch die Kärntnerstraße. In diesen Gegenden, besonders auf dem engen und unregelmäßigen Stockameisenplatz, ist der Zusammenfluß von Menschen so groß und die Bewegung so lebhaft als irgend in einer Gegend von London oder Paris. Der Strom dieses großen Getümmels zieht sich noch bis an das Leopoldstor und in die Hauptstraße der Leopoldsstadt fort. - In den Vorstädten steigt die Zahl der sehenswürdigen Gebäude auch nicht über acht, und die Bauart und die Anlage der meisten Gärten verraten überhaupt sehr wenig Geschmack.
Nach der gemeinen Sage, die auch von Leuten, denen man eine genauere Kenntnis ihrer Vaterstadt zutrauen sollte, bestätigt wird, beläuft sich die Anzahl der sämtlichen Einwohner Wiens wenigstens auf eine Million. Der berühmte Herr Büsching aber will in seiner "Erdbeschreibung" dieser Stadt kaum 200.000 Menschen zugestehen. Das hiesige Publikum und dieser große Geograph sind fast gleich weit von der Wahrheit entfernt. Voriges Jahr, wo die Sterblichkeit hier nicht außerordentlich war, betrug die Anzahl der Toten etwas über 10.000 oder ohngefähr die Hälfte der jährlichen Begräbnisse zu Paris. Wenn man die ungeheure Menge der ab- und zuströmenden Fremden, deren Sterblichkeit man nur sehr geringen Teils mit in den ganzen Anschlag bringen kann, dazu nimmt, so muß man die Summe der Verstorbenen mit etlichen und dreißig multiplizieren, um die wahre Zahl der hier wirklich atmenden Menschen beiläufig zu bestimmen. Ein Mann von Stande, der es genau wissen kann, sagte mir, man habe bei einer Zählung vor kurzem 385.000 Menschen hier gefunden, die Einwohner und Fremden zusammengenommen. Diese Zahl wird sehr wahrscheinlich, wenn man bedenkt, daß hier Luft und Wasser besser sind als zu Paris und in dieser Stadt über 700.000 Menschen gezählt werden, wovon jährlich ohngefähr 21.000 sterben. Wien ist also ohngefähr so stark bevölkert als Neapel, und diese zwei Städte sind nach Konstantinopel, London und Paris ohne Vergleich die volkreichsten in Europa. - Wenn man nur mit mehrern großen Städten bekannt ist, so wird man beim ersten Anblick schon überzeugt, daß diese Stadt mehr als 200.000 Seelen enthalten muß.
Mit dem Charakter, den Sitten, Gebräuchen, Belustigungen und dergleichen der hiesigen Einwohner bin ich noch zu wenig bekannt, als daß ich dir etwas Zuverlässiges davon sagen könnte. Ich konnte bisher nichts als einige äußere Züge haschen, die von einer erstaunlichen Prachtliebe der Großen zeugen. Man zeigte mir den Fürsten Karl von Liechtenstein, der ein stolzes Pferd ritt. Sein Gefolge bestand wenigstens aus acht Personen, worunter auch einige niedlich gekleidete Husaren waren, die dem Anschein nach eine Art von Leibwache von ihm sind. Er soll in seinen Manieren, Gebärden und Gesichtszügen etwas Ähnlichkeit mit dem Kaiser haben, und man glaubt, einer kopiere den andern im Äußerlichen. Ich konnte diese Ähnlichkeit in dem flüchtigen Blick, den ich auf beide zu werfen Gelegenheit hatte, nicht finden. Wenigstens unterscheidet sich der Kaiser von dem Fürsten darin, daß er bei seinen Spazierfahrten kein so zahlreiches Gefolge liebt. Ich sah ihn in einem Kabriolett mit einem einzigen Bedienten in den Augarten fahren. Er liebt das Einfache und Populäre fast bis zur Übertreibung und sticht darin mit den Großen seines Hofes stark ab, die dieses so stark auffallende Beispiel nötig hatten. Ich glaube in dieser kurzen Zeit mehr prächtige Equipagen und Pferde hier gesehen zu haben als zu Paris. Unsere Moden herrschen hier despotisch. Periodisch werden die Puppen aus Paris hieher geschickt und dienen den hiesigen Damen zum Muster ihrer Kleidung und ihres Haarputzes. Auch die süßen Herren beschreiben sich von Zeit zu Zeit Zeichnungen aus Paris und legen sie ihren Schneidern und Friseurs zum Studium vor. Gestern hörte ich in der Komödie eine Dame der andern mit dem Ton und der Miene der höchsten Wichtigkeit erklären, die Königin von Frankreich habe erst vor vier Wochen zu Muette 11 den Kopf putz gehabt, nach dessen Muster sie koeffiert 12 sei. Alle Damen, die ich sah, sind wie die zu Paris stark geschminkt, und das Rote zieht sich bis an die Ohren und in die Augenwinkel. Die Kunstverständigen sagen, die Augen bekämen durch dieses Rot ein gewisses Feuer, das die Blicke unaussprechlich beseele. Ich glaube, ich habe dir und der Nannette schon erklärt, daß ich Barbar genug wäre, alle Schminke von den Wangen der Damen mit einem Strohwisch und grobem Sand wegzureiben, wenn auch alles Spiel der Augen verlorenginge. Unterdessen scheint die dicke Schminke den hiesigen Damen wie den unsrigen ein unentbehrliches Bedürfnis geworden zu sein, um ihr natürliches Gelb zu verdecken. Ich sah einige, die alle Ursache hatten zu beten: "La vérole, mon Dieu, m'a rongé jusqu'aux os." 13
Unsere neuern Philosophen sind durchaus gegen die großen Gesellschaften. Ich meinesteils nehme die Sachen gerne, wie sie sind, und bin mit jeder Einrichtung herzlich zufrieden, wenn eine Veränderung gefährlich oder unmöglich wäre. Es ist wahr, es schauert der Menschheit, wenn man die großen Städte auf ihrer Schattenseite betrachtet. Setze sich aber einer dieser Herren, die so viel mit der besten Welt 14 in der Luft zu schaffen haben, nur einmal hin und löse das Problem auf, wie Paris, London oder Wien kleiner zu machen seien, ohne den ganzen Staat zu erschüttern und ohne einen großen Teil der wirklichen Einwohner dieser Städte unglücklich zu machen. Diese zahlreichen Gesellschaften bestehen bloß durch ihre Mängel, durch den ungeheuren Luxus, der sie mitten im Überfluß arm macht, durch ekelhafte Sklaverei des einen und durch Übermut und Stolz des andern Teils, durch Aufopferung der Gesundheit und des Lebens so vieler tausend Menschen, deren Schicksal unser Philosoph bedauert, daß sie nicht zerstreut wohnen wollen wie die Schotten im Hochland und die Helvetier in den Alpen oder gar wie die Illinois und Irokesen in den Wäldern von Nordamerika oder die Afrikaner in ihren Sandwüsten.
Wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten. Der Mensch, überhaupt genommen, ist überall mehr gut als bös, und wenn das Böse des abstrakten Menschen in großen Städten sichtbarer ist als in den zerstreuten Hütten der Berge, Wälder und Wüstenbewohner, so ist es meistenteils deswegen, weil dort die natürlichen Anlagen des zweibeinichten Tieres ohne Federn mehr Gelegenheit haben, sich zu entwickeln, weil man die zusammengetragne Masse des Bösen so vieler Menschen auf einmal übersehen kann, welches bei dem zerstreut wohnenden nicht statthat, weil dieses gehäufte Böse mit dem Guten um so stärker absticht, weil die Polizei mehr Neigung hat, das Böse zu ahnden als das Gute zu belohnen, und das erstere also ruchbarer ist als das letztere, weil unsere Philosophen, die hierüber deklamieren, mehr Spleen als gute Laune haben und lieber Schwarz als Weiß sehen, und weil es den meisten mit ihren Deklamationen so wenig Ernst ist, daß der sehr ernstliche Herr Hans Jakob 15 von Genf doch lieber zu Paris wohnte als unter den Savoyarden und Wallisern 16 , deren Lobredner er war.
Man sagt von London, daß man daselbst Himmel und Hölle beisammen sehe. Dieses gilt für jede große Stadt, nur die kleine Modifikation des Guten und Bösen ausgenommen, womit der starke Charakter des Briten seine Handlungen schattiert. Käme doch einer dieser Herren Denker auf dem sechsten Stockwerk auf den Einfall, die Gemälde von heroischen Tugenden, wovon der Halbwilde keinen Begriff haben kann, aus der täglichen Geschichte großer Städte zu sammeln und, wenn es doch einmal des lieben Brotes wegen geschrieben sein muß, sie mit der gehörigen Brühe für das Publikum zu appretieren 17 . Das Gute des Menschen entwickelt sich in gedrängten Gesellschaften ebenso leicht als das Böse und hat in den Augen eines wahren Menschenfreundes unendlich mehr Wert als das Gute des Halbwilden, weil es nicht wie bei diesem die Wirkung eines fühllosen Instinktes, sondern mit mehr Bewußtsein und einem lebhafteren Gefühl begleitet ist. Die Schilderung des Taglöhners in St. Marcel zu Paris, den ein Mönch auf dem Todesbette damit trösten wollte, daß er froh sein müßte, aus diesem Jammertal in das Paradies überzugehen, aber die unerwartete Antwort bekam: "Lieber Vater! Keine Sünde nagt an meinem Gewissen. Meine Tage flossen sanft und in ununterbrochener Freude dahin, und mir war die Welt kein Jammertal. Willig unterwerfe ich mich der Fügung des Schicksals, und ich sterbe ohne Seufzer; aber fristet mir der Schöpfer noch das Leben, so verschaffe ich mir mit meiner Holzsäge und meiner Axt noch mehr vergnügte Tage!"... Das Gemälde des jungen Menschen, der sich ums Geld so oft zur Ader ließ, um einem angehenden Wundarzt zum Studium zu dienen, und mit seinem Blut seiner Familie auf einige Zeit Brot verschaffte... Das Mädchen in St. Jakob zu Paris, welches, taub gegen alle Beredsamkeit der Wollust, große Reichtümer ausschlug, die der Preis ihrer Entehrung sein sollten, und mit der ekelhaftesten und härtesten Arbeit, die ihre Schönheit und Gesundheit aufzehrte, ihrer kranken Mutter und ihren kleinen Geschwistern Unterhalt verschaffte, und noch tausend Beispiele von dieser Art, welche die Geschichte von Paris liefert, sind Beweise genug, daß der Mensch in der gehäuften Gesellschaft in eben dem hohen Grad gut als bös sein kann und daß der natürliche Stand des Menschen mit seinen Vorzügen an Tugend und Glück meistens nur ein schöner Traum müßiger Denker ist. Ich, Bruder, fand den Menschen auf nackten Felsenwänden, wenn er Anlaß dazu hatte, so bös und gewalttätig als den Bürger in der Stadt. Der Hang zur Unterdrückung seiner Nebengeschöpfe kann sich bei dem ersten nicht so leicht entwickeln, weil er nicht so oft und so stark in Kollisionen kommt, als bei dem letztern; aber wenn dieser gut ist, so ist er es gewiß in einem höhern Grade als der Halbwilde.
Es ist wahr, eine gewisse Erziehungsart, gewisse Gebräuche und eine verderbte Regierung können den Menschen in der gedrängten Gesellschaft leichter unter seine Natur erniedrigen als da, wo er einsamer lebt. Aber alle Halbwilden, die wir kennen, sind auch diesem zufälligen Einfluß der Erziehung, der Gebräuche und der Regierung ausgesetzt, und die ganz Wilden oder die Urmenschen lernen wir nicht eher kennen, als bis die Länder jenseits des Mondes entdeckt sein werden. Dagegen ist aber der Mensch in der zahlreichen Gesellschaft biegsamer und, wenn er verdorben ist, leichter wieder zu bessern als der Halbwilde, der sein Leben für seine Gebräuche und Sitten setzt. Auch die schwärmerischesten Verehrer der Schweiz konnten doch nur in einigen Tälerchen von Wallis das Urbild der Unschuld finden, dessen Züge vielleicht in der nächsten Generation unerkenntlich sein werden, und sie müssen gestehen, daß das Verderben, welches unter den einsamen Bewohnern der Graubündner Berge und durch einige demokratische Kantons herrscht, alle Vorstellung übersteigt, die man sich außer diesen Gebirgen davon machen kann, und daß das Übel hier platterdings unheilbar ist, dahingegen der Pariser, Lond[o]ner, Wiener und andere mehr in einigen Generationen gebessert werden kann.
Ich fand diese Vorerinnerung nötig, um dir einigermaßen begreiflich zu machen, daß mir die Wiener, wenn ich auch gleich nicht soviel Gutes von ihnen sagen kann, als ich wünsche, doch sehr liebe Leute sind und daß ich ihnen deswegen nicht raten möchte, auseinanderzulaufen und wie die Zigeuner hinter den Hecken zu leben, um ihren Zustand zu bessern und dem Stand der Natur näher zu kommen. Ich finde den Menschen, an dem sich mein Herz wärmen kann, überall und habe nicht nötig, mit unsern neuern Rittern in die Täler von Piemont, Savoyen und der Schweiz zu laufen, um Menschen zu suchen. Ich weiß nicht, ob diese Herren die Menschen, die sie suchen, dort finden; aber das ist bekannt, daß sie alle sehr bald wieder zurückkommen.
Das hiesige Publikum sticht mit dem von Paris durch eine gewisse Grobheit, einen unbeschreiblichen Stolz, eine gewisse Schwerfälligkeit und Dummheit und durch einen ausschweifenden Hang zur Schwelgerei erstaunlich ab. Die Gastfreiheit, wodurch es sich bei vielen Reisebeschreibern einen so großen Ruhm erworben, ist meistens nur ein Vehikulum seines Stolzes. Seit den vier Wochen, als ich hier bin, konnte ich kaum drei- oder viermal nach meiner Gemächlichkeit bei einem Traiteur speisen. Es ist Sitte, wenn man in ein Haus eingeführt wird, einen Tag zu bestimmen, an welchem man wochentlich Gast im Hause sein muß. In dem Haus, worin ich zum erstenmal eingeführt ward, fand ich sehr artige Leute, deren Gastfreiheit ich für wahre Gefälligkeit nehmen konnte. Aber da waren so viele Bekannte und Verwandte zu Tische, die mich gleichfalls einluden, und bei diesen bekam ich wieder so viele Einladungen, daß ich, wenn ich auch keine neuen mehr annehme, in den ersten vier Wochen noch nicht damit zu Ende bin. Den meisten stand über den Augen die Frage an mich auf der Stirne geschrieben: "Nicht wahr, wir sind andere Leute als die Pariser?" Einige konnten sich auch nicht enthalten, in ziemlich platte und grobe Spöttereien über uns auszubrechen. Es ist wahr, man ißt und trinkt hier ungleich besser und mehr als zu Paris. Die tägliche Tafel der Leute vom Mittelstand, der geringern Hofbedienten, der Kaufleute, Künstler und bessern Handwerker besteht aus sechs, acht bis zehn Gerichten, wobei zwei, drei bis vier Gattungen Wein aufgesetzt werden. Gewöhnlich sitzt man zwei Stunden am Tisch, und man nahm es für eine Unhöflichkeit auf, daß ich mir manche Gerichte verbat, um mir die Indigestionen 18 zu ersparen, womit ich anfangs einigemal geplagt war. Aber sosehr nun auch für die Nahrung deines Leibes hier gesorgt ist, so sehr hungert es deiner Seele nach den freundschaftlichen Diners und Soupers zu Paris, die mehr zur Mitteilung der gegenseitigen Empfindungen und Beobachtungen als zu Indigestionen und Blähungen angelegt sind.
Platter Scherz und Spott sind fast das einzige, womit sich die Gäste bei der Tafel zu unterhalten suchen. Die, welche den ersten 'Rang unter dem Mittelstand behaupten, haben gemeiniglich einen Mönchen und öfters auch einen Komödianten an der Tafel, deren sehr verschiedener Witz die ganze Gesellschaft belustiget. Den Ehrwürdigen setzt man zwischen das Frauenzimmer, welches er unablässig necken muß, und der andere Komödiant nimmt diese Neckereien zum Stoff der seinigen. Nun dreht sich der ganze Spaß um Zweideutigkeiten herum, die alle Bäuche und Lungen erschüttern. Nimmt das Gespräch eine ernsthaftere Wendung, so fällt es gewöhnlich auf das Theater, welches die ganze Sphäre der hiesigen Kritik und des hiesigen Beobachtungsgeistes ist, Die hiesigen Schauspieler scheinen nicht, wie die unsrigen, die besten Gesellschafter zu sein. Auffallend war mir's, daß die, welche ich bisher kennenlernte, nicht einmal ihre Muttersprache gut sprechen können. Man würde es zu Paris einem Akteur nicht verzeihen, wenn er in einer Gesellschaft das Patois 19 der Fischerweiber spräche wie die Herren vom hiesigen Theater, die ich kenne, und sich, wie diese, in seinen Gebärden, seinen Beobachtungen und seinem Witz nicht einmal über das tiefste Pöbelhafte erheben würde.
Überhaupt herrscht hier im alltäglichen Umgang nichts von der Munterkeit, dem geistigen Vergnügen, der uneingeschränkten Gefälligkeit, der lebhaften und zum Interesse des Umganges unumgänglich nötigen Neugierde, wodurch auch die Gesellschaften vom niedrigsten Rang zu Paris beseelt werden. Kein Mensch macht hier Beobachtungen über die Leute, die den Hof ausmachen. Niemand versieht das Publikum mit Anekdoten und Neuigkeiten du jour 20 . Du findest unzählige Leute von Mittelstand, die von ihren Ministern, Generälen und Gelehrten kein Wörtchen zu sagen wissen und sie kaum dem Namen nach kennen. Alles hängt hier ganz an der Sinnlichkeit. Man frühstücket bis zum Mittagessen, speist dann zu Mittag bis zum Nachtmahl; und kaum wird dieser Zusammenhang von Schmäusen von einem trägen Spaziergang unterbrochen, und dann geht's in das Schauspiel. Gehst du den Tag über in ein Kaffeehaus, deren es hier gegen siebzig gibt, oder in ein Bierhaus, welche unter den öffentlichen Häusern die reinlichsten und prächtigsten sind - ich sah eines mit rotem Damast tapeziert und mit vergoldeten Rahmen, Uhren und Spiegeln à la grecque 21 und mit Marmortischen -, so siehst du halt das ewige Essen, Trinken und Spielen. Du bist sicher, daß dich kein Mensch ausforscht oder dir mit Fragen lästig ist. Kein Mensch redet da als nur mit seinen Bekannten, und gemeiniglich nur ins Ohr. Man sollte denken, es wäre hier wie zu Venedig, wo sich alle Leute in den öffentlichen Häusern für Spionen halten.
Ich stund einigemal gegen Mittag auf dem Graben, um welche Zeit das Gedränge am stärksten ist, um die Wiener in ihren Physiognomien zu studieren. Ihre Gesichtsbildung nimmt sich dadurch aus, daß, überhaupt genommen, die Knochen unter den Augen ein wenig weit vorstehen und das Kinn, längst den Wangen her, platt und unten spitz zuläuft. Außer einigen Zügen von grobem Stolz konnt ich nichts auf diesen Gesichtern lesen. Entweder ist das erste Axiom der Physiognomik, nämlich daß sich die Seele in den äußern Linien des Körpers abdrucke, grundfalsch, oder die Wiener haben wenig Seele. "Nos nurnerus sumus et fruges consumere nati" 22 ; das ist alles, was sich da lesen läßt. Ich sah bisher außerordentlich wenig bedeutende, geistige Gesichter.
Ich schränke meine Beobachtungen bloß auf den Mittelstand ein, der den großen Haufen oder, im wahren Verstande des Wortes, das Volk ausmacht. Der große Adel in Europa sieht sich zu unsern Zeiten - einige kleine Nuancen ausgenommen - fast überall gleich, und die ganz untere Klasse des Pöbels gehöret kaum zur Gesellschaft. Die Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit der Nationen ist nur in der Sphäre des Mittelstandes zu suchen.
Wenn ein Fremder, wie es dem Engländer Moore 23 begegnet sein mag, das Glück hat, in gewisse große Häuser hier zu kommen, so findet er freilich einige Gesellschaften, die die besten zu Paris und London übertreffen. Es gibt hier unter den Damen vom ersten Rang Aspasien 24 - außer dem Bette, versteht sich -, die ihren griechischen Urbildern Ehre machen, deren Zirkel aus den besten Köpfen, den größten Helden und Staatsmännern bestehen und selbst von einem der größten, besten und weisesten Monarchen mit einer sich ganz mitteilenden Herablassung besucht werden, die den Kreis an Augusts 25 Hofe versetzt. Aber hier lassen sich keine Gemälde von Volkssitten und Nationalcharakteren sammeln, die uns Herr Moore auf dem Titel seines Werks zu geben verspricht.
Die Geselligkeit, der Geschmack und die schönen Sitten, welche nun den größten Teil des hiesigen hohen Adels so liebenswürdig machen, sind eine Folge des hinreißenden und entzückenden Beispiels des jetzigen Kaisers. Sein Herr Vater stimmte den sultanischen Ton des hiesigen Hofes schon etwas herunter, aber Joseph ist der erste seines Hauses, der für alle Menschen Mensch ist, der seine Kron und seinen Zepter für ein unbedeutendes Gepränge der Eitelkeit hält, die Kaiserwürde bloß im Wohltun sucht und sich bloß durch den größern Wirkungskreis, wohlzutun, von seinen Untertanen unterscheidet. Der hiesige Adel war ehedem das Gepräge des Hofes. Einer vom hohen alten Adel hielt es für eine Entehrung, wenn ihm ein Bürgerlicher nur gerade in die Augen sah. Der kleine Adel ward unter dem Titel des Leonischen 26 nach spanischer Art ganz von der Gesellschaft ausgeschlossen, und man hat Beispiele, daß sogar Feldmarschällen von niederer Geburt der Zugang versagt wurde. Das ganze Reich der Wissenschaften ward unter dem Titel der Pedanterie begriffen, und die Künste, die ohne Wissenschaften geschmacklos sind, durften nur im bunten Gewand des Harlekins erscheinen. Kaiser Leopold war ein großer Verehrer der Musik, und man hat noch Aufsätze von ihm, die aber nach Aussage der Kenner wenig G[e]schmack haben. Denke dir diesen Cäsar, wie er mit der Krone auf dem Haupt zum Fenster seines Palastes herausschaut, um sich an den Harlekinaden einiger damaligen Schauspieler zu ergötzen, die im Hofe des Palastes herumtanzten, sangen und ihre Schellenkappen gegen die Kaiserkrone aufschwangen, so hast du das wahre Bild des damaligen Hofes, der mit dem gleichzeitigen von Ludwig dem Vierzehnten stark genug absticht. Der erstickende Dunst der affektierten Hoheit verscheuchte die Musen und Grazien weit vom Hofe und aus dem ganzen Lande. Nach dem Getümmel der langwierigen Kriege, worin er so viel Lorbeer sammelte, weihte zwar der große Eugen von Savoyen 27 seine Ruhe den schönen Göttinnen. Alles, was von ihm noch übrig ist, spricht von einem Geschmack, der auf die alte, finstere Masse Wiens Licht wirft. Er war der erste, der der französischen Lektüre hier den Eingang zu öffnen suchte. Er stand mit den größten Gelehrten und Künstlern seiner Zeit in Verbindung und wäre hier für die Wissenschaften eben das geworden, was er für die kaiserliche Armee war, wenn der Aberglaube und die Dummheit so leicht zu besiegen wären als die größten Kriegesheere. Die Mönche, besonders die Jesuiten, hemmten seinen wohltätigen Einfluß und vereitelten seine patriotischen Bemühungen, wie sie auch das meiste dazu beitrugen, daß seine politische Gegenpartei immer bei Hofe über ihn siegte. Unter Karl dem Sechsten stand kein Fach der Wissenschaften in Ansehen als die, welche sich auf das Finanz- und Handlungswesen beziehen, die subtile Gelehrsamkeit ausgenommen, die sich mit dem echten Schnitt einer Kapuze, mit der Berechnung, wie viel Geister auf einer Nadelspitze zu tanzen Raum hätten, mit der Untersuchung, wie sich die einfachen Wesen vervielfachen und wieder vereinfachen können und dergleichen mehr beschäftigen. Vor einigen Tagen fiel mir hier von ohngefähr ein Buch in die Hände, welches ohne Zweifel das beste inländische Produkt ist, welches Karls des Sechsten Zeiten aufweisen können. Es handelt von den Staats- und besonders von den Finanzwissenschaften, und die vortrefflichen Grundsätze, die in einem sehr barbarischen Deutsch darin vorgetragen werden, hat bisher noch kein Monarch genau befolgt als der König von Preußen, der dadurch groß geworden. Der Verfasser nennt sich Schröder und stand in kaiserlichen Diensten. Aber außer dem Fach der Finanzen war alles dicke Finsternis. Alles, sogar die Predigten, waren Hanswursterei; und erst spät unter der Regierung des verstorbenen Kaisers kommen einige Spuren von einem gereinigten Geschmack zum Vorschein. Die Kaiserin Maria Theresia konnte sich nie entschließen, ihrem Gemahl die Zügel des Staats ganz zu überlassen, sonst wäre es hier schon viel heller. Diese in jedem andern Betracht so große Fürstin hat eine schwache Seite, die den Pfaffen, welche die Schwäche der Regenten immer am besten zu benutzen wissen, freies Spiel gestattet. Sie sieht alles, Künste, Wissenschaften, Sitten und Gesellschaften, im Licht ihrer persönlichen Religion und Frömmigkeit und möchte gern alle ihre Untertanen mit Gewalt zu Engeln machen. Ich werde dir hierüber ein andermal weitläuftigere Nachricht geben. Sie hat auch die alte spanische Etikette ihres Hofes noch nicht ganz vergessen können und hält noch viel auf alten, reinen Adel. Dies ist Ursache, daß auch der bessere Teil der hiesigen Einwohner nur insoweit geändert ist, als er es durch den persönlichen Umgang des Kaisers werden konnte; denn dieser hat als Mitregent auf die Regierung seiner Erblande noch gar wenig Einfluß. Die Frömmigkeit der Kaiserin gestattet zur Aufnahme der Wissenschaften und Künste und zu einem frohen Genuß der geselligen Freuden zu wenig Freiheit, und der Zug von Stolz und Herrschsucht, der die natürliche Güte ihres Herzens ein wenig schattiert, teilt sich noch einem Teil des Adels und der Hofleute mit.
Bei den unbeschreiblich vielen Anstalten, welche die Kaiserin zur moralischen Besserung ihrer Untertanen macht oder doch zu machen glaubt, muß doch der Hof noch ganz allein hier die frommen Stiftungen unterhalten und das meiste für die Hausarmen tun. Hier ist kein Pfarrer von St. Sulpice, der zur Verpflegung der Notdürftigen von subskribierten Wohltätern jährlich gegen 300.000 Livres einnimmt. Der hiesige Erzbischof, Migazzi, hat zwar die Bigotterie und die Anhänglichkeit an die päpstliche Hierarchie mit unserm Beaumont 28 gemein, aber er verteilt nicht wie dieser jährlich gegen eine Million Livres unter verschämte Arme und Notleidende. Ich zweifle, ob hier eine Kollekte von 10.000 Gulden gemacht werden könnte. Und doch gibt es Häuser hier, mit denen sich die reichsten zu Paris nicht messen können. Pracht, Verschwendung und Schwelgerei macht hier fast alles gegen die sanftern Gefühle der Menschlichkeit, gegen die reine Wollust, seinen Nebengeschöpfen Gutes zu tun, und gegen die wahre Größe des Menschen stumpf und fühllos. Die meisten der reichen Häuser haben sich durch ihren übertriebenen Aufwand mit Schulden belastet, und doch haben es noch wenige gelernt, sich vernünftig einzuschränken. Sie würden es für eine Schande halten, wenn sie ihrer Schulden wegen eine bessere Ökonomie einführen sollten. Die vorn Mittelstand verzehren alles von Hand zu Mund und sind froh, wenn sie auch bei einem beträchtlichen Einkommen keine Schulden haben, wenn das Jahr zu Ende ist. Ökonomie ist hier eine unbekannte Sache. Alles schwelgt und lebt bloß für seine Sinnlichkeit. Ich muß abbrechen und die Fortsetzung dieses Briefes auf die nächste Post versparen.
Die hiesige Polizei ist ganz dazu angelegt, alles, was Schwung der Seele und moralische Stärke des Menschen heißt, zu unterdrücken. Man sollte bedenken, daß die beste Polizei eben nicht diejenige ist, die gar keine andere Absicht hat, als jedes Glied der Gesellschaft soviel als möglich sicherzustellen. Eine weise und wahrhaft menschliche Polizei beschäftigt sich mit dem Problem, wie es möglich sei, der Gesellschaft die größte Sicherheit zu verschaffen und dabei die Freiheit der einzeln Glieder sowenig als möglich zu kränken. Wenn man jeder bürgerlichen Familie einen Wächter zur Seite stellt, unter dessen Aufsicht sogar die Tische und Betten des Hauses stehen und welcher den Bewohnern desselben überallhin auf dem Fuße nachfolgt, so ist freilich für alle Unordnungen gesorgt; aber wer liebt die Ordnung unter den Ruderknechten auf einer Galeere?
Der weise Schöpfer, dessen Ebenbild jede Regierung sein soll, ließ uns den freien Willen, den wir so oft mißbrauchen. Er legte dem Guten einen stärkern Reiz bei, ohne uns die Gewalt zu nehmen, Böses zu tun. Diese Freiheit macht, alles Bösen ungeachtet, welches daraus erfolget, die wahre Größe des Menschen aus. Die Religion sagt uns, der Schöpfer wird zu seiner Zeit das Böse streng bestrafen und das Gute reichlich belohnen. Ohne die Freiheit, Böses zu tun, hätten wir kein moralisches Gefühl und kein moralisches Glück, und Gott könnte dann nicht gerecht gegen uns sein.
Ein treffenderes Urbild für die menschliche Gerechtigkeit und Polizei gibt es nicht. Unsere Gerechtigkeit soll das Böse ohne alle Nachsicht strafen und das Gute mit voller Hand belohnen, und die Polizei, welche derselben untergeordnet ist, soll keine andere Absicht haben, als der Gerechtigkeit die Mittel an die Hand zu geben, alles Böse strafen und alles Gute belohnen zu können. Aber das moralische Böse physisch unmöglich machen zu wollen, ist eine Beleidigung der Menschheit und der Gottheit.
Die menschliche Gerechtigkeit hat kein Böses als das, welches aus den Handlungen entspringt, die der Gesellschaft schaden. Sie und ihre Magd, die Polizei, sollen ihre Richterstühle nicht zu Beichtstühlen machen und ihre Gebiete gewalttätigerweise über die häusliche Moralität der Menschen ausdehnen. Die Polizei-, Konsistorial- und andere Räte dürfen nicht, wie hier, Inquisitoren sein, wenn das Volk mehr Charakter und mehr moralisches Gefühl haben soll, als es wirklich hat.
Vielleicht ist Wien die einzige Stadt in der Welt, die eine besondere Keuschheitskommission hat. Noch vor wenig Jahren gingen die Spionen dieser sonderbaren Kommission den jungen Leuten bis in die Häuser auf dem Fuß nach, und man mußte sich's gefallen lassen, daß sie auch mitten in der Nacht in die Schlafzimmer brachen und die Betten visitierten. Der Greuel, den diese Kommission in der Gesellschaft anrichtete, war so groß, daß der Kaiser sein ganzes Ansehen gebrauchte, um von seiner Frau Mutter, die sich besonders viel von dieser Kommission versprach, eine Einschränkung derselben zu bewirken. Einige von den Keuschheitsspionen standen mit Nymphen 29 im Vertrag, die junge Leute in die Häuser lockten und dann nach der getroffenen Verabredung von den Mouches 30 in flagranti überfallen wurden. Der junge Mensch mußte sich nun, um nicht vor die Kommission geführt zu werden, rein ausplündern lassen, und der Mouche und die Nymphe teilten die Beute heimlich unter sich. Das Übel ist nun durch die Verwendung des Kaisers in etwas gehoben worden; aber wie ekelhaft ist nicht für einen Menschenfreund der Anblick eines Polizeiwächters im Prater, wo die Natur selbst die Menschen zum freien Genuß des Umgangs einladet, wenn er sieht, wie der Wächter den jungen Leuten in die dickern Gebüsche und unter die Bäume nachgeht, um den möglichen Sünden zuvorzukommen.
Man glaubt hier, das wirksamste Mittel zur Unterdrückung der Hurerei und der Kindermorde und zur Beförderung der Bevölkerung wäre, wenn man den jungen Menschen, der von einem Mädchen als Vater angegeben wird, stehenden Fußes vor dem Konsistorium mit demselben verehelichte. Man erzählte mir einen seltsamen Auftritt von der Art. Ein junger Herr ward vor das Konsistorium gefordert. Er wußte, daß ein Mädchen Ansprüche auf ihn machte und was er zu erwarten hatte. In dem Vorzimmer der Gerichtsstube fand er ein armes Jüngferchen, dem er leicht ansah, daß es von dem Konsistorium auch einen Mann zu fodern habe. Er ließ sich in aller Eile einige Umstände von ihr erklären, und als er hörte, daß der Schwängerer dieses Mädchens entflohen und es wenig Hoffnung habe, ihn zum Mann zu bekommen, versprach er ihr eine ansehnliche Summe, wenn es ihn als Vater angeben würde, aber von einem frühern Datum als das gute Kind, mit dem er soeben vor Gericht konfrontiert werden sollte. Das Mädchen gab ihm sein Wort, und voll Zuversicht, ein sicheres Auskunftmittel gefunden zu haben, stellte er sich vor die Räte. Man fragte ihn, ob er die neben ihm stehende Person beschlafen habe. Er gestand es. Man sagte ihm, daß er Vater sei und also dem Mädchen die Hand geben müsse. Er wandte dagegen ein, im Vorzimmer stehe eine Person, die ältere Ansprüche auf ihn zu machen habe. Diese wird vorgefordert. Man sieht mit einem Blick, daß sie länger schon Mutter sei als die andre. Die erste Klägerin muß sich mit einer gewissen Summe Geld begnügen und abtreten. Nun sagt der junge Herr, mit dieser noch anwesenden Person habe er sich vorläufig schon abgefunden. Sie leugnet es. Die Räte fodern Zeugen und Unterschrift. Der gute Herr hat nichts aufzuweisen und muß auf der Stelle seine Hand einer Hure geben, die er hier zum erstenmal in seinem Leben gesehn.
Ich kenne verschiedene angesehene Herren, die auf diese Art Männer wurden. Ihre Weiber trieben eine Zeitlang in der Stille den Schleichhandel mit ihren Reizen. Als diese zu welken begannen, wählten sie aus dem Schwarm ihrer Günstlinge irgendeinen, mit dem sie eine gute Partei zu treffen glaubten, und gaben ihn vor Gericht an. Das Beschlafen, auch ohne Schwängerung, gab ihren Ansprüchen Gewicht genug. Einige dieser sehr seltsamen Ehepaare sind als Künstler dem ganzen Publikum bekannt.
Um die Hurerei und die Kindermorde zu verhüten, wüßte ich ein sicherers Mittel, welches aber der andern Absicht, die man durch diesen Ehezwang erreichen will, nämlich der Beförderung der Bevölkerung, gar nicht zuträglich ist. Shakespeare hat es schon der hiesigen Polizei vorgeschlagen. Ich besinne mich nicht, in welchem Stücke seiner theatralischen Werke dieser Dichter einen Hurenwirt zu Wien sagen läßt, wenn die Polizei das Huren gänzlich abschaffen wollte, so müßte sie alle Mannsleute kastrieren. Es scheint, die hiesige Polizei stand wegen ihrer Keuschheit schon damals in Ruf.
Dieser Ehezwang hat schreckliche Folgen für die Gesellschaft und den Staat. Ich weiß nicht, ob die Hurerei dadurch in etwas gehemmt wird, aber gewiß ist es, daß das Ehebrechen dadurch befördert wird. Die eheliche Treue, Vertraulichkeit und Liebe, die heiligsten und heilsamsten Bande der Gesellschaft werden dadurch aufgehoben. Der Mann, welcher seine Frau, indem er ihr gezwungen die Hand reicht, als eine Hure betrachten muß, kann nie ihr wahrer Freund werden, kann nie die Hochachtung für sie bekommen, die zu einem glücklichen Ehestand unumgänglich nötig ist. Es ist auffallend, wie gleichgültig hier die Eheleute gegeneinander sind. Zu Paris herrscht unter einem großen Teil der verehelichten Einwohner die nämliche Gleichgültigkeit; aber sie ist Sitte und kein Fehler der Regierung. Eheliche Liebe und Treue sind unter dem Mittelstand zu Paris auch so unbekannt nicht, wie sie hier zu sein scheinen. Die Bevölkerung, welche man durch diesen Zwang befördern will, wird grade dadurch vermindert. Nach der Meinung der einsichtsvollsten und erfahrensten Physiker ist warme Liebe der Befruchtung ungemein zuträglich und der Beischlaf ohne dieselbe gar oft fruchtlos. Die meisten durch diesen unnatürlichen Zwang verknüpfte Ehepaare, die ich hier kenne, sind kinderlos und die Ehen hier überhaupt wenig fruchtbar. - Die Gleichgültigkeit der Eltern gegeneinander teilt sich auch den Kindern mit, und die sanftern Empfindungen der Liebe und Freundschaft werden schon in der Jugend erstickt. Dieser Mangel an ehelicher und häuslicher Zärtlichkeit ist ohne Zweifel eine der Hauptursachen, daß die hiesigen Einwohner überhaupt so wenig sittliches Gefühl haben.
Es ist wahr, jedes Ding hat seine schlimme und gute Seite. Wenn es dem hiesigen Nationalgeist an Stärke und Schwung fehlt, so sind seine Laster ebenso kleinlicht und schwach als seine Tugenden. Man hört hier nichts von den tragischen Auftritten, die zu London, Neapel und auch zu Paris so gewöhnlich sind. Beutelschneider, Betrüger, Bankruttierer, Diebe, Verschwender, Kuppler und Kupplerinnen sind fast die einzigen Gattungen von Arrestierten, die man hier findet. Nicht einmal zu einem Straßenräuber ist der Österreicher stark genug, denn ich schreibe es den zahlreichen Armeen des Kaisers, die so viele junge müßige Leute mit der Flinte beschäftigt, nicht allein zu, daß diese Art von Verbrechern hier so selten ist. Ein Sachse, den ich hier kenne und der schon seit mehrern Jahren die österreichischen Staaten durchreiset, kann sich nicht erinnern, je von einem Duell gehört zu haben. Gestern sah ich einen Auftritt, der die hiesigen Einwohner und die Polizei stark charakterisiert. Ein nach dem Äußerlichen sehr ansehnlicher Herr bekam auf offener Straße Händel mit einem Mietkutscher. Von den sechshundert Polizeidienern, die durch die Stadt verteilt sind, sprang sogleich der nächste herzu. Der Herr fing an, heftig zu schimpfen. Der Mietkutscher ermangelte nicht, jedes Schimpfwort mit starkem Prozent wieder zurückzugeben. Es entstand das lächerlichste Schauspiel, das ich je gesehen. Zwischen dem Schimpfen wollte jeder den dicken Haufen von Zuschauern überzeugen, daß er recht habe. Nun fuhren sie in ihren Erklärungen unablässig einander mit den Händen an den Nasen herum, aber jeder gebraucht eine unbeschreibliche und für einen Franzosen, Engländer oder Italiener unmögliche Vorsicht, die Spitze der Nase seines Gegners nicht zu berühren; denn nach dem Gesetz wird der, welcher zuerst schlägt, ohne Barmherzigkeit gestraft, wenn ihm auch der andre noch soviel Anlaß dazu gegeben. Der Polizeidiener stand stumm da und folgte mit angestrengten Augen den mannigfaltigen Bewegungen der Hände der Streitenden. Hätte einer nur die Hutspitze des andern berührt, so wäre es ein Schlag gewesen, und der Wächter hätte den Schläger eingezogen. Der Auftritt währte über eine Viertelstunde und endigte sich mit einem Gelächter der Zuschauer. Weiter als zum Schimpfen kömmt es hier zwischen streitenden Parteien höchst selten, und zum Schimpfen ist hier jedermann vortrefflich ausgerüstet.
Einen Aufstand hat der Hof in seiner Hauptstadt nicht zu beförchten. Die Geschichte Wiens weiß überhaupt sehr wenig von solchen Auftritten. Gegen den Anfang des vorigen Jahrhunderts haben hier die Protestanten eine kleine Gärung veranlaßt, aber jetzt steht nicht das geringste zu beförchten, was einem öffentlichen Tumult ähnlich sähe. Der Wiener ist zu entnervt dazu. Dagegen weiß er auch nichts von dem warmen patriotischen Gefühl, welches alle Lond[o]ner und Pariser begeistert, wenn die Ehre der Nation und der Krone bei irgendeinem Vorfall interessiert ist. Die Stände der französischen Provinzen und die Stadt Paris haben in Kriegszeiten oft freiwillig der Krone viele Millionen geschenkt, und in einzeln Kaffeehäusern unserer Hauptstadt sind öfters schon Kollekten gemacht worden, die zum Bau und zur Ausrüstung eines Linienschiffes hinlänglich waren. Die österreichischen Staaten haben wenige und sehr unbedeutende Beispiele von der Art aufzuweisen.
Subordination ist hier die einzige Triebfeder des Staates. Ich habe noch kein Fünkchen von der Freiheitsliebe der Engländer oder von dem Gefühl der Ehre, welches unsere Landsleute auszeichnet, hier aufspüren können. Der Stolz, welcher unter der kaiserlichen Armee herrscht, ist zu persönlich, als daß er eine für den Staat wohltätige Empfindung sein könnte. Dem Feuer des Nationalstolzes, welches mehr für den ganzen Staat als für die Privatehre im Busen unserer Landsleute brennt, haben wir es zu verdanken, daß auch unsere halb aufgezehrten Wollüstlinge vom Busen ihrer Freundinnen sich losreißen und mit einer Tapferkeit vor den Kanonen der Feinde auftreten, die sogar auch diese zu jeder Zeit bewundern mußten. Unsere Soldaten werden zu patriotischen Dichtern entzückt, und die Gesänge, welche ein Haufen Kameraden auch zur Friedenszeit unter sich anstimmt, sind größtenteils Empfindungen des Muts, der Ehre und des Nationalstolzes und Lobeserhebungen ihrer Anführer. Ich hörte hierzulande die Soldaten überhaupt wenig singen, und was sie sangen, waren grobe Polissonnerien 31 . Ich zweifle nicht, daß, des Singens ungeachtet, ein österreichisches Kriegsheer zu unsern Zeiten nicht ein französisches schlagen würde; aber hierüber werde ich zu Berlin mit dir sprechen, wo der Ort schicklicher dazu ist.
Ein Staat, der bloß durch Subordination besteht, setzt Schwäche der einzeln Glieder voraus. Der strenge Gehorsam schwächte den Charakter der Spartaner nicht, weil er nicht die eigentliche Seele des Staates, sondern nur ein Mittel zur Verteidigung der Freiheit und der Nationalehre war, für welche die lazedämonischen 32 Herzen glühten. Die Gesetze Großbritanniens sind strenge, und unter der Marine desselben ist eine Subordination eingeführt, welche der preußischen an Genauigkeit gleichkömmt. Aber die Pünktlichkeit und dieser Gehorsam unterdrückten die hohen Empfindungen eines Briten nicht, weg sie nicht die Haupttriebfedern seiner Regierung sind. Kein Volk hat die Gewalt seiner Könige kaltblütiger eingeschränkt als das britische, und doch hat keine Nation solche Beispiele von kindlicher Liebe zu einzeln Königen und Aufopferungen für die Personen verschiedener derselben aufzuweisen, als man in der Geschichte Englands so häufig findet. Das Gefühl des Briten für die Freiheit ist für die Person des Königs ebenso stark, wenn der König die Konstitution unangetastet läßt und Liebe zu derselben äußert. Indessen der Untertan eines Staates, der bloß durch Subordination regiert wird, schwach von Charakter wird, behält der Brite seine Stärke so lange, als seine Konstitution dauert.
Die Großen, wenn Herrschsucht ihre erste Leidenschaft ist, müssen freilich die Stärke des Charakters ihrer Untertanen als das größte Hindernis ihrer Herrschsucht und also als ihre natürliche Feindin betrachten. Es muß ihnen daran gelegen sein, ihren Staat im eigentlichen Verstande des Wortes zu einer Maschine zu machen, wovon ihr freier Wille allein die Seele ist, und alle Tatkraft der untergeordneten Glieder dieser Maschine zu unterdrücken. Das Maschinenmäßige, worauf auch die Kriegskunst zu unsern Zeiten gestiegen oder gefallen ist, schließt alle Personaltapferkeit aus und macht den Mut der einzeln Glieder der Armee entbehrlich. Es ist sogar gewissermaßen wahr, was einer unserer größten Schriftsteller bemerkt hat, daß eine solche Staatsmaschine, wenn alle Fugen gehörig ineinanderpassen, desto dauerhafter und brauchbarer ist, je schwächer die einzeln Glieder derselben im moralischen Betracht sind; aber ich mag kein Glied dieser Maschine sein.
Die hiesige Regierung scheint diesen mannigfaltigen Zwang durch eine unparteiische Verwaltung der Gerechtigkeit, durch eine allgemeine Sicherheit und durch eine Begünstigung der öffentlichen sinnlichen Vergnügen - jene der Liebe ausgenommen - wieder in etwas gutzumachen. Der geringste Bediente hat sich gegen seinen Herrn, und wenn er auch einer der ersten Hofleute wäre, Gerechtigkeit zu versprechen. Die Polizei ist so aufmerksam und tätig, daß ihr auch oft die feinsten Diebereien nicht verborgen bleiben und der Eigentümer wieder zu dem Seinigen kömmt. Fast alle kaiserlichen Schlösser und Gärten stehn dem gesamten Publikum zur Ergötzung offen. Der Prater und der Augarten sind vom Hof zu den schönsten öffentlichen Spaziergängen großer Städte in Europa gemacht worden. Die Schaubühnen genießen vorzüglich den Schutz eines Hofes, der in allem zeigt, daß der Zwang, den er seinen Untertanen antut, mehr die Folge irriger Grundsätze als eines Hanges zur Unterdrückung ist. Aber bei all den vielen Lustbarkeiten, bei all der schönen Ordnung und Sicherheit, welche dabei herrschen, bin ich - vielleicht scheint es dir paradox - viel lieber unter den Engländern in London, ob ich schon nicht so sicher wie hier bin, auf der Straße in der Nacht angefallen zu werden. Ein Vauxhall 33 , wenn mir auch gleich die zertrümmerten Gläser um den Kopf fliegen, ist mir immer lieber als das stille Saufen und Fressen und Spielen im Prater, wobei freilich jeder sicher ist, daß ihm kein Haar gekrümmt wird. Die Stiergefechte der Spanier, das Raufen der Trasteverini 34 zu Rom, die Schlägereien unserer Edelleute und Offiziers, das Boxen der Briten sind freilich politische Unordnungen, von denen man hier nichts Ähnliches sieht; aber ich glaube, es sind Unordnungen, welche von einem stärkern Nationalcharakter, als der hiesige ist, unzertrennlich sind. Mit nächster Post mehr davon.
Noch vor ohngefähr sechzehn Jahren war hier der Harlekin die Seele von allem, was Schauspiel hieß. Man fand nichts schön, als was Harlekin tat und sprach. Die Kritik von Norddeutschland pfiff ihn von der hiesigen Bühne; aber der große Haufen hier beseufzt noch seinen Abtritt. Er hat auf einen Befehl des Hofes vom Publikum feierlich seinen Abschied genommen.
Nun entwarf man den Plan zu dem Nationaltheater, der nach und nach, aber endlich doch glücklich ausgeführt ward. So wie dieses Theater jetzt wirklich ist, gibt es der französischen Komödie zu Paris nichts oder doch wenig nach. Ich sah hier den "Hausvater" von Diderot aufführen und zweifle, ob er zu Paris je durchaus so gut besetzt war. Die Gesellschaft ist ausgesucht, aber sie hat die nämlichen Gebrechen, welche die französische Komödie hat und die jede Schauspielergesellschaft haben muß, wenn sie unter keiner strengen Subordination steht.
Ich besprach mich vor einigen Tagen mit einem der angesehensten hiesigen Schauspieler über die Direktion des Theaters. "Wir formieren unter uns ein Parlament", sagte er, "und der Intendant des Hofes hat nicht mehr Gewalt über uns als der König von England über die Kammer der Gemeinen." Tant pis 35 , dacht ich; denn wenn eine republikanische Verfassung irgend schädlich ist, so ist sie es gewiß unter einer Schauspielergesellschaft, wovon ein Teil immer die Könige und Fürsten wirklich sein will, die er auf dem Theater spielt, und den andern für die Bedienten und Sklaven hält, die er auf der Bühne vorstellt.
Ich muß dich mit den vornehmsten dieser Whigs 36 persönlich bekannt machen, denn es ist wirklich der Mühe wert. Sie verdienen die Achtung, worin sie hier stehn und die ihnen den Zugang zu den ersten Gesellschaften des Hofes öffnet.
Der ältere Stephanie, Regisseur, ist ein vortrefflicher Mann außer der Bühne. Er besitzt eine mannigfaltige Lektüre und ein gutes Herz. Er hat in der Gesellschaft das Anständige und Runde eines Weltmanns und ziemlich viel Witz. Es ist schade, daß sein Bau für das Theater nicht der beste ist. Seine Füße sind nicht die schönsten, und der Unterleib hat überhaupt nicht das beste Verhältnis zur obern Hälfte des Körpers. Er sucht diese Naturfehler oft durch künstliche Stellungen und Wendungen zu verbergen; aber auch nur ein mittelmäßiges Auge sieht gleich beim ersten Anblick, daß ihn seine Figur geniert. Unter allen hiesigen Schauspielern, Herrn Brockmann ausgenommen, deklamiert er am richtigsten, aber nicht am schönsten, denn seine Stimme fällt manchmal ins Hohle. Seine Sprache ist äußerst rein, welches er seiner theatralischen Bildung in Sachsen zu danken hat. Seine Gesichtszüge sind stark, nehmen sich aber doch auf der Bühne nicht sehr aus, weil er blond ist und durchs Malen dem scheinbaren Spiel derselben nicht genug nachzuhelfen sucht. Zu zärtlichen Vätern, welches seine Meisterrollen sind, ist er ganz gemacht. Ich hab den Hausvater noch nicht besser spielen sehn als von ihm. Weil er aber zu gut ist, die kleinen Fehler seiner Figur kennt und mit unbändigen Leuten zu tun hat, so muß er sich öfters gefallen lassen, Rollen zu spielen, wozu er gar nicht gemacht ist. Man sucht ihm alle schwere Personagen, wobei doch keine Ehre zu verdienen ist, oder alle die sogenannten undankbaren Rollen aufzuhängen. Ich sah ihn junge lebhafte Prinzen machen, wobei er freilich nichts gewann. Unterdessen sieht man Überall, daß er Kopf hat, und er leistet allzeit, was mit seinem Körper zu leisten möglich ist. Er hat verschiedene Stücke aus dem Französischen und Englischen übersetzt und, wenn ich nicht irre, auch einige kleine Originalstücke geliefert.
Sein jüngerer Bruder ist gerade das Gegenteil von ihm: ein rauher, starrköpfiger, trotziger Mann mit einem Medusengesicht und nach dem ersten Anblick mehr zu einem Grenadierkorporal als zu einem Schauspieler gemacht. Er spielt Flegel, Murrköpfe, Tyrannen, Scharfrichter und dergleichen mehr, welche ihm alle natürlich sind und die ihm niemand nachmachen kann. Als Dichter ist er viel schätzbarer als Akteur. Aller Kritiken, die ihn verfolgen, ungeachtet, werden seine Stücke doch auf allen deutschen Bühnen und auch auf jenen aufgeführt, wo man am stärksten über ihn schreit. Sie haben viel Populäres, oft sehr treffende Charakterzüge und nicht selten eine sehr feine Verwickelung. Es ist schade, daß er nicht ganz ausgebildet ist. Er ist seiner Sprache nicht Meister genug und sieht sich oft gezwungen, Intrigen mit Haaren in seinen Plan zu ziehen, weil er zu fruchtbar sein will, wie man denn schon seine Stücke dutzendweis verkauft. Wenn er sich mehr Zeit ließe, zu feilen und zu schleifen, ich glaube, er könnte unter die besten jetzt lebenden Theaterdichter gesetzt werden. Seine "Liebe für den König", welches die Geschichte von Karl dem Zweiten von England ist, sein "Deserteur aus Kindesliebe", seine "Bekanntschaft im Bad", seine "Wölfe in der Herde" und sein "Unterschied bei Dienstbewerbungen" verraten gewiß Genie, wenn sie auch gleich nicht bis zur klassischen Schönheit ausgearbeitet sind. Übrigens kümmert er sich weder um die Kritiker seiner Gedichte noch seines Theaterspiels. Er flucht und schimpft ihnen unter die Nase, und wenn Not an Mann gehn sollte, so hat er auch zwo Fäuste, um sie schweigend zu machen.
Herr Brockmann ist erst seit einigen Jahren hier. Man hat lange Zeit um ihn gebuhlt. Er genoß in Hamburg eines Ruhms, den Lekain bei uns und Garrick in England genoß. Er wollte nicht hieher, weil er die Kabalen dieser Theaterrepublik scheute und dann seine Frau seit langer Zeit schon hier war, mit welcher er nicht im besten Vernehmen zu stehen scheint. Endlich ließ er sich durch die vorteilhaften Bedingungen, die man ihm machte, doch hieher locken. Er ist einer von den Schauspielern, die eben nicht beim ersten Anblick auffallen, aber immer mehr einnehmen, je länger man sie sieht. Man muß sich erst an seine etwas zu fleischichte Figur und seine etwas heisere Stimme gewöhnen, ehe man sein Verdienst ganz schätzen kann. Aber wer diese kleine Gebrechen einmal gewohnt ist, der muß über seinen Ausdruck entzückt werden. Ihm entgeht keine Nuance einer Leidenschaft oder sonst irgendeiner Situation. Die unbeschreibliche Leichtigkeit seines Spiels versteckt das erstaunliche Studium, welches er auf alle seine Bewegungen und auf jedes einzel[n]e Wort wendet, das er spricht. Er studiert unablässig vor dem Spiegel, und alles an ihm verrät Verstand, Fleiß und Übung. Seine Meisterrolle ist Hamlet, den er aber hier nicht spielen kann, weil die republikanische Verfassung der Gesellschaft nicht erlaubt, daß man einem andern eine Rolle nimmt, die er schon gespielt hat, und im Besitz dieser Rolle ist ein gewisser Lange, von dem ich dir bald Nachricht geben werde. Aber Brockmann ist wie Garrick imstand, alle Rollen, vom Sultan an bis auf den Sklaven, gut zu spielen. Einen größern Beweis von Weltkenntnis gibt es nicht.
Nun ist die Reihe an einem Mann, der gewiß einzig in seiner Art ist. Es ist Herr Bergopzoomer, einer der größten Charlatans und doch zugleich einer der besten Künstler seiner Art, die ich je gesehen. Er hatte ehedem zu Prag eine Theaterschule und kam auf den seltsamen Einfall, alle Bewegungen der Hände und Füße mit Buchstaben des Alphabets zu bezeichnen. Nun rief er seinen Zöglingen unter dem Spiel zu: A, B, K, R, Y, und mit jedem Buchstaben mußten sie die gehörige Bewegung verbinden. Er soll auch der Verfasser eines sehr traurigen Trauerspiels sein, worin er die Hauptrolle gespielt und erst alle andre Personen seines grausamen Stückes und sich dann zu guter Letzte selbst umgebracht hat. Mordtaten sind seine Stärke. Ich sah ihn den tollen Richard von England machen, und ich muß gestehen, in der Henkersarbeit tut es ihm keiner nach. Er ist stark und doch leicht von Bau, hat eine vortreffliche Stimme, ein lebhaftes Aug und auffallende Gesichtszüge und weiß von allen dem guten Gebrauch zu machen. Im Studium übertrifft er vielleicht noch Herrn Brockmann. Er bemalt sein ganzes Gesicht mit allen seinen Farben, so wie es der Charakter und auch allenfalls die Geschichte des Personnage erfodert, welches er spielen muß. Er setzt sich falsche Haare in die Frisur, die er sich in der Wut ausrauft und handvollweise auf den Boden wirft. Seine Wunden müssen wirklich bluten, und er soll ehedem in heftigen Leidenschaften sogar öffentlich auf dem Theater in der Wut Blut ausgespien haben. Als Richard sah ich ihn sich auf den Boden werfen, grinsen und mit den Zähnen knirschen, daß ich wirklich schauerte. Alles das hat den Ausdruck der Wahrheit, daß er auch einen Kenner seine Scharlatanerien und Grimassen vergessend macht. Sein Fayel übertrifft alles, was von der Art gespielt werden kann. Er weiß, welche Gewalt ein Deklamateur mit den Gradationen der Stimme haben kann. In der "Emilia Galotti" macht er als Camillo Rota, ohne Bewegung der Arme oder Faltung des Gesichts, bloß mit fünf bis sechs Worten das ganze Parterre schauernd. Überhaupt ist ihm durch seine erstaunliche Übung alles so leicht und rund geworden, daß man auch oft die größten Schwierigkeiten, die er überwindet, nicht achtet. Du mußt eben nicht glauben, daß der Mann nichts als Romanhelden, als blutdürstige Tyrannen und Mörder spielen könnte. Nein, er spielt auch die etwas lebhaftern Rollen des bürgerlichen Lebens vortrefflich. Der Restless in dem englischen Stück "Alle irren sich" ist ein Meisterstück von ihm. Du weißt, daß dies eine der schwersten Rollen ist, die gespielt werden können. Nur schade, daß er lieber mordet und stirbt als mehrere solche Rollen spielt. Übrigens ist er ein guter Gesellschafter und, was etwas Seltenes in der Schauspielerwelt ist, ein Mann von ziemlich ansehnlichem Vermögen.
Unter allen Schauspielern hat keiner unter den Großen des Hofes so viele Gönner und Freunde als Herr Müller. Der Mann versteht sich auf alles. Er errichtet Lotterien für die Bälle, bei deren Fonds sich sogar die Kaiserin selbst interessiert, hält eine Bude von Galanterien, hat eine artige Frau und eine schöne Tochter, welche bei den Großen öfters das Klavier spielt, und weiß von allem Nutzen zu ziehen. Er soll so viel Kredit haben, daß in seinem Handel und Wandel gegen 50.000 Gulden fremdes Geld zirkulieren sollen; ich glaube aber, die Summe ist ein wenig übertrieben. Er lebt von den großen Herren als ein großer Herr. Seine Wohnung ist auf dem besten und teuersten Platz der Stadt und besteht aus einer Suite von Zimmern, die kostbar und mit vielem Geschmack tapeziert sind. Er hat in einer Vorstadt einen artigen Garten gemietet, worin er im Sommer für alle Welt freie Tafel gibt. Alle schönen Geister aus Deutschland adressieren sich an ihn, und er bietet jedem seine Wohnung an. Die Bekanntschaften, die er sich dadurch unter dem hiesigen Adel und den hiesigen Gelehrten macht, vergüten ihm wieder diese Gastfreiheit. Er hat auch einige Theaterstücke fabriziert, die aber nicht so gut sein sollen als seine Galanteriewaren. Er ist der insinuanteste 37 Mann von der Welt und sucht allen Leuten zu helfen, so wie er auch sucht, daß ihm von allen Leuten geholfen wird. Als Schauspieler hat er eine unverzeihliche Eitelkeit. Seine Rollen sind komische Bedienten, Pedanten und Schwätzer; weil er aber außer dem Theater eine so ansehnliche Figur macht, so gefallen ihm diese niedern Personnagen auf der Bühne nicht. Er spielt gerne Chevaliers und Hofmänner, und darin ist er unglücklich; denn seine affektierte Sprache, seine Gesichtsbildung und der Bau seines Körpers weisen ihm platterdings den Stall und die Antichambre 38 zu seinem Fach an. Da er im Theaterparlament den Sprecher macht, so ist es ihm leicht, Rollen zu bekommen, die seiner Eitelkeit mehr schmeicheln als seiner Kunst Ehre machen. Er ist ein neuer Beweis, daß ein Schauspieler eben nicht zu den Rollen, die er im bürgerlichen Leben spielt, am geschicktesten ist; denn zu dem Chevalier, den er in der Welt macht, taugt er auf der Bühne gar nicht.
Herr Lange, den ich schon oben genennt habe, ist ein schöner Mann und hat eine sehr gute Stimme. Sein Fehler ist, daß er ein Maler ist. Seine Stellungen auf dem Theater sind vollkommene Akademien. Gerade wie man in den Zeichenschulen die Leute, welche den Studierenden zum Muster dienen, in gewisse steife Attitüden setzt, worin sie nichts empfinden, ebenso kalt und steif fallen auch alle Bewegungen des Herrn Lange aus. Er will alles gar zu musterhaft gut machen, und es ist ihm oft nicht natürlich. Seinen Hamlet könnte er ohne Bedenken Herrn Brockmann abtreten, ohne etwas dabei zu verlieren. Er hat eine Unart an sich, die wenig Kopf verrät. Wenn er eine Stelle deklamieren soll, die ihm Beifall verspricht, so sucht er so nah als möglich an das Parterre zu kommen und tritt oft bis an den Rand der Vorderbühne vor. Zu bürgerlichen Rollen ist er gar nicht gemacht, denn er scheint überhaupt zu wenig Kenntnisse zu besitzen. Seine Rollen sind Romanhelden, worunter sich Coucy im "Fayel" vorzüglich ausnimmt. Seine schöne Stimme weiß er nicht zu gebrauchen. Bei Gradationen 39 fällt er ins Singende. Er schlägt sich zu oft mit geballter Faust auf die Brust. Wenn es in der Absicht geschieht, seine Sünden zu bekennen, so hat man nichts dagegen einzuwenden. Er hat große Gönner und eine liebenswürdige Frau, die sehr gut singt. Durch die Protektion seiner Gönner setzt er sich oft in Besitz von Rollen, worauf er keine Ansprüche machen sollte; aber alles hängt hier von der Protektion ab. Übrigens gehört er auch unter die seltenen Komödianten, die Vermögen besitzen.
Nun ist von den Akteurs vom ersten Rang keiner mehr übrig als Herr Steigentesch, den ich lieber bei mir im Zimmer als auf dem Theater sehe. Er ist ein Mann von ausgebreiteten Kenntnissen, spricht verschiedene lebende Sprachen und hat Witz. Seine kleine Figur und eine gewisse Affektation schadet seinem Theaterspiel, worin er aber doch viel Verstand und Weltkenntnis äußert. Er macht Stutzer und Chevaliers, die aber hier, so wie die jungen bürgerlichen Liebhaber überhaupt, schlecht besetzt sind. - Von den übrigen, worunter Herr Weidmann zu Stutzerkarikaturen und Herr Jacquet zu Sesselträgern und Nachtwächtern vorzüglich zu gebrauchen sind, will ich dir nichts sagen, denn die Liste würde zu groß.
Unter dem Frauenzimmer sticht Madame Sacco auffallend hervor. Ehedem hieß sie Mademoiselle Richard und war der großen Welt vom Rhein an bis an die Elbe mehr durch die Reize ihrer Person als ihres Theaterspiels bekannt. Sie scheint die unbeschreiblichen Talente, welche ihr die Natur gegeben, im Genuß der Liebe eine Zeitlang vernachlässigt zu haben; aber nach und nach entwickelten sie sich von selbst, und bei zunehmendem Alter suchte sie durch angestrengtes Studium alles zu ersetzen, was sie allenfalls vernachlässigt hat. Sie hat ein sehr fühlbares Herz, ein griechisches Profil, phantastische oder, wenn ich so sagen darf, romantische Gesichtszüge, ein Auge voll schmachtenden Feuers, den schönsten Wuchs und eine Silberstimme. Man muß die Gabrielle im "Fayel" von ihr sehen, wenn man schmelzen will. Zum erstenmal in meinem Leben kamen mir in einem Schauspielhaus Tränen in die Augen, als ich sie diese Rolle spielen sah. Aber Romanheldinnen sind nicht ihr einziges Fach. Sie macht Myladies, Marquisinnen und Devoten mit gleicher Wirkung. Sie kennt die Welt durchaus, und hier stehen ihr auch alle Gesellschaften bis ins Kabinett der Kaiserin offen. Sie ist so sehr von ihrem Körper Meisterin, daß sie einer meiner Freunde mit einem Klavier oder irgendeinem Instrument verglich, welches Diskant und Baß zugleich spielt. Sie weiß ungemein viele harmonische Bewegungen und Veränderungen der Augen, des Mundes, der Stimme, der Arme und des übrigen Körpers so richtig und so zusammen einfließend miteinander zu verbinden, welche doch oft so sehr zusammen abstechen und einander erheben, daß ihr Körper wohl mit nichts besser verglichen werden kann als mit einem musikalischen Instrument von dieser Art. Ich kenne keine drei Schauspielerinnen, die sich mit ihr vergleichen ließen. Sie ist würdig, die Abgöttin des Publikums zu sein, welche sie wirklich ist. Aber es währte lange, bis das Publikum ihre Verdienste erkannte. Sie hat das mit Herrn Brockmann gemein, daß ihr Spiel nicht wie das von Herrn Bergopzoomer oder Herrn Lange beim ersten Anblick auffällt. Alle große Schönheiten haben das eigen. Man wird erst entzückt, wenn man ihre Teile beschaut und vergleicht.
Neben ihr treten Mademoiselle Teutscher und Mademoiselle Nannette Jacquet auf. Sie wären gute Schauspielerinnen, wenn keine Sacco da wäre. Von dem übrigen Frauenzimmer weiß ich dir keine mehr zu nennen als Madame Huber, die eigensinnige, zänkische und stolze Weiber auf der Bühne und außer derselben vortrefflich macht. In ihrem Hause gilt sie für ein Dutzend dieser Art von Geschöpfen.
Die ganze Gesellschaft steht im Sold des Hofes, und jedes Glied behält sein Appointement 40 , solange es lebt, und wenn es auch unbrauchbar wird. Die höchste Gage, welche der Hof zahlt, ist von 1.200 Gulden; daneben bekommen die vom ersten Rang über 600 Gulden und Holz und Kleidergeld, und der Hof verteilt großmütig den Überrest der Einnahme jährlich unter sie aus. Die ganze Einnahme betrug voriges Jahr gegen 120.090 Gulden, und die Unkosten beliefen sich auf etliche und 80.000. Der Überschuß wird nach dem Verhältnis der Appointements verteilt. Wenn sie Kinder haben, so sucht man ihnen sobald als möglich ein kleines Appointement auszusetzen. Überhaupt behandelt man sie sehr großmütig. Den Gemahl der Madame Sacco, einen Tänzer von Profession, den man zu nichts gebrauchen konnte, machte man bloß in Rücksicht auf seine Frau zum Garderobinspekteur mit einem Gehalt von 500 Gulden, so daß das liebe Ehepaar zusammen auf ohngefähr 2.300 Gulden oder etwas über 6.000 Livres unseres Geldes zu stehen kommt. Die von der zweiten Klasse ziehen 800 bis 1.000 Gulden Gage und die von der letzten 4- bis 600. Herr Jacquet mit seinen zwei Töchtern kommt jährlich auf ohngefähr 4.000 Gulden oder beinahe auf 12.000 Livres zu stehen.
Die Kabalen und Intrigen, welche in dieser Republik herrschen, sind über alle Beschreibung. Jede Rolle setzt Händel ab. Die Großen des Hofes mischen sich ins Spiel, und das Publikum leidet darunter. Wenn diese Gesellschaft unter einer klugen und strengen Direktion stünde, so wäre sie ohne Vergleich eine von den drei ersten in Europa. Auch die Dichter leiden darunter. Wenn das Theaterparlament Sitzung hat, so werden die eingeschickten neuen Stücke öffentlich vorgelesen und sodann die Stimmen gesammelt. Die Mehrheit gibt den Ausschlag. Nun wurden schon öfters Stücke verworfen, weil einige der Erstern keine glänzende Rolle darin zu spielen hatten, oder weil man eine schöne Rolle nicht einem Nebenbuhler überlassen wollte, oder weil einige der Mitglieder nicht bei guter Laune waren, eine neue schwere Rolle einzustudieren, oder weil, welches der gewöhnliche Fall ist, die wenigsten den Wert des Stückes einsahen. Der Mangel an guten neuen Stücken, worüber sie erbärmlich klagen, zwingt sie seit einiger Zeit, gegen die Dichter gefälliger zu sein. Der Verfasser eines Stückes bekömmt, nebst einem Prämium, die Einnahme von der dritten Vorstellung seines Produktes und hat die Freiheit, das Manuskript noch einem Buchhändler zu verkaufen. Dieser ansehnlichen Vorteile ungeachtet, ist man hier mit den neuen Stücken so sehr auf die Neige gekommen, daß man dem Theater eine kleine deutsche Oper beifügen mußte. Die Glieder dieser Opergesellschaft stehen bei den alten Gliedern der Komödie in der tiefsten Verachtung, und es kömmt fast täglich zu den lächerlichsten Auftritten von Verfolgung, Kabalen, Eifersucht und Schelmerei. Übrigens sorgt die Kaiserin dafür, daß die Sitten der Schauspielerinnen öffentlich, besser sind als jener zu Paris.
Im ganzen hat das hiesige Publikum einen so verdorbenen Geschmack als das zu München. Alles schreit hier Panem et Circenses 41 , und der große Haufe scheint wirklich gar keinen andern Wunsch zu kennen und keine andre Empfindung zu haben, als daß sein Bauch gefüllt und ihm immerfort eine Art Schauspiel zum Dessert vorgesetzt werde; allein sein Geschmack wird dadurch nicht gebessert, noch weniger sein Gefühl dadurch verfeinert. Viele seufzen laut nach der güldenen Zeit des Harlekins, und um die andern nicht ungehalten zu machen, muß Freund Harlekin noch öfters mit einer Staatsperücke oder gar in der Rüstung eines Helden auftreten und das mit einem weinerlichen Ton bewirken, was er ehedem mit Lachen tat; denn ich kann die sogenannten erhabenen Stellen der Tragödie, wo einer stundenlang unsinnig ist, ohne von den mitspielenden Personen, die bei Verstand sind, an Ketten gelegt zu werden, wo einer stundenlang mit dem Tode ringt, ohne daran zu denken, sein Testament zu machen, und nichts Bessers mehr zu tun weiß, als den Zuschauern zwanzigmal in abgebrochenen Seufzern zu sagen, daß er sterbe, welches sie doch nicht eher glauben, als bis er sein Haupt zur Erde legt, wo einer in einer großen Verlegenheit ist, womit er sich oder einen andern umbringen soll, und an dem ersten besten, der ihm begegnet, einen Freund findet, welcher die Taschen voll Dolche und Giftpulver hat und ihn reichlich damit versieht - alle diese großen Szenen, sage ich, kann ich für nichts anders als weinerliche Harlekinaden erklären. Das Publikum beklatscht sie, ohne zu wissen warum, wie es ehedem auch die sinnlosesten Grimassen des Hanswurstes beklatscht hat. Es ist fast unbegreiflich, wie sich die Leute durch bloßes Nichts bis zur Entzückung hinreißen lassen. Vor einigen Tagen kam es zu einer von den Stellen, die das Parterre vorzüglich fand. Der Schauspieler, welcher sie zu deklamieren hatte, Herr Lange, wußte voraus, wie es jeder wissen kann, daß er Beifall bekäme, wenn er auch gar nicht verstanden würde. Er trat also an den Rand des Theaters, riß die Arme auseinander, fing an, auf seiner Brust zu trommeln, und ehe er noch einen zusammenhangenden Satz gesprochen hatte, erhob sich das betäubendste Klatschen, welches bis zum Ende der Stelle anhielt. Es war platterdings ohnmöglich, daß jemand nur ein Wort von allem dem verstanden hätte, was der beklatschte Schauspieler gesagt hat. Ich habe mich innigst überzeugt, daß das hiesige Publikum außer den Grimassen nichts schön finden kann. Bei den Vorstellungen der besten Stücke, wenn sie nichts Lärmendes und kein sonderliches Gepränge haben, ist das Parterre leer und bei den elendesten Farcen, worin geschossen, gehangen, gespießt, geheult und gerast wird, allezeit gedrängt voll. Die besten Stellen, wo der Dichter die feinste Menschenkenntnis, Witz und Genie zeigt und der Schauspieler sein Talent nicht durch Grimassieren, sondern durch den sanften Ausdruck der Wahrheit und durch Überwindung großer Schwierigkeit an den Tag legt, bleiben unbemerkt. Dabei versteht das hiesige Publikum seine Sprache gar nicht. Kein Eingeborner achtet hier auf die Reinheit, Ründung und Lebhaftigkeit des Dialogs, und ich habe Stellen beklatschen gehört, die man sicher zu Paris ausgepfiffen hätte, wenn sie so schlecht französisch gewesen wären, als sie hier deutsch waren.
Außer dem Nationaltheater treiben jetzt in den Vorstädten noch sechs bis sieben besondre Schauspielergesellschaften ihre eigne Wirtschaft. Sie sind von der Art, wie ich einige in Schwaben herumziehen sah, deren Glieder wechselweis bald auf dem Theater, bald im Spital und bald bei der Trommel und meistens verlaufene Studenten, Schneider und Perückenmachergesellen sind. Sie spielen im Halbdunkel und scheuen eine starke Beleuchtung, um den ehrlichen Leuten kein Ärgernis zu geben, die bei mehrerm Licht alle Schürzen der Mädchen über die Hände der neben ihnen sitzenden Mannsleuten gebreitet sehen würden. Die, welche ihre Bühnen tief hinter den Hintergebäuden und in Gärten aufzuschlagen wissen, wo man nach Beendigung des Schauspieles in der Nacht mit einer Freundin leicht einen Abtritt von der offenen Straße nehmen kann, haben den meisten Zuspruch. Sie wissen so wohl, daß man nicht wegen ihres Spieles zu ihnen kommt, daß oft die halbe Gesellschaft während der Komödie ins Wirtshaus lauft und einer drei bis vier Rollen zugleich spielen muß.
Der Verfasser der "Voyages en différents pays de l'Europe" (Herr Pilati) spricht sehr verächtlich von dem deutschen Adel und setzt den neapolitanischen in Betracht des Reichtums weit über denselben. Wenigstens hätte er den hiesigen davon ausnehmen sollen, denn es sind Häuser hier, deren eines mehr Vermögen hat als die sechs reichsten von Neapel, die er nennt. Die ältere Linie des Hauses Liechtenstein oder der Fürst Franz dieses Namens hat wenigstens 900.000 Kaisergulden oder über 2.300.000 Livres jährlicher Einkünfte. Er besitzt allein in Mähren gegen zwanzig Herrschaften, deren viele aus zwanzig bis dreißig Dörfern bestehen. Er ist ohne Vergleich der reichste Partikular 42 in Europa; denn man kann ihn mit allem Recht einen Partikularen heißen, weil die unmittelbaren Reichsherrschaften Vaduz und Schellenberg in Schwaben, die das Haus bloß in der Absicht gekauft hat, um Sitz und Stimme auf dem Reichstag zu haben, im ganzen nicht in Anschlag kommen. Lord Cavendish, welcher jetzt für den reichsten Mann in England gehalten wird, hat ohngefähr 80.000 Pfund Sterling jährlicher Einkünfte, die kaum 700.000 Gulden hiesiges Geld ausmachen. Zu Paris kennt man weder unter dem Adel (die Prinzen vom königlichen Geblüt ausgenommen) noch unter den Generalpächtern jemand, der über 1.200.000 Livres Revenuen hätte, und die Fürsten Radziwill und Czartoryski in Polen können sich so wenig als einige russische Familien mit dem Haus Liechtenstein vergleichen. Der Fürst Esterházy hat über 600.000 und der Fürst Schwarzenberg über 400.000 Kaisergulden jährlichen Einkommens. Der Häuser von mehr als 100.000 Kaisergulden Renten oder von ohngefähr 300.000 Livres, welche Herr Pflati als die reichsten zu Neapel angibt, findet man hier gegen dreißig und ohne die obbemeldten wenigstens noch zehn, die noch einmal so reich sind. Die Häuser Karl Liechtenstein, Auersperg, Lobkowitz, Paar, Palffy, Colloredo, Hatzfeldt, Schönborn und noch viele andere sind ungleich vermögender als die Herzoge Pignatelli, Matalone und die Fürsten von Palagonia und Villa Franca zu Neapel.
Dieses erstaunlichen Reichtums ungeachtet, sind die meisten großen Häuser mit Schulden beladen. Hier vereinigt man alle Arten des Luxus, die man sonst unter verschiednen Nationen zerstreut findet. Pferde, Bedienten, Tafel, Spiel und Kleidung: alles ist übertrieben. Es sind viele Ställe hier von fünfzig, sechzig und mehr Pferden. Wer 50- bis 60.000 Gulden Einkünfte hat, muß wenigstens vierundzwanzig bis dreißig Pferde haben. Ein Haushofmeister, ein Sekretär, zwei Kammerdiener, zwei Läufer, ein oder zwei Jäger, zwei Köche, fünf bis sechs Lakaien und ein Portier machen die Bedienung jedes mittelmäßigen Hauses aus. Die Häuser Liechtenstein, Esterházy, Schwarzenberg und einige andre haben wohl gegen fünfzig Bedienten, die Leibwachen der zwei erstern Fürsten ungerechnet. Man setzt oft nur eine Platte Obst für sechzig bis siebzig Gulden auf die Tafel, und Graf Palm hatte einst ein Kleid von 70.000 Gulden Wert auf dem Leibe. Ein Schmuck für eine Dame von 30- bis 40.000 Gulden ist hier etwas Gemeines, und wenn auch gleich die Hasardspiele verboten sind, so hat man doch häufige Beispiele, daß einzelne Personen in einem Sitz 15 bis 20.000 Gulden verloren haben.
Prinz R ... n, welcher als französischer Botschafter hier war, mit dem hiesigen Adel im Aufwand wetteifern wollte, aber viele Schulden hinterließ, sagte bei seiner Abreise: "Man vertut sein Geld zu Paris mit mehr Geschmack, aber die Wiener halten länger aus." Es ist wahr, man vertut sein Geld, ohne viel dabei zu genießen, ohne Geschmack. Viele würden wohl tun, wenn sie die Hälfte ihrer jährlichen Revenuen gerade zum Fenster hinauswürfen und sich die Leute darum schlagen ließen. Sie machten auf diese Art ihre Bedienten nicht zu Schurken und genössen ebensoviel dabei. Zu Paris schränkt man sich in manchen Stücken ein: jeder Hausvater vom Stande hat seine Art von Ökonomie, auf die er strenge hält und die ihm zur Gewohnheit geworden; man studiert darauf, um sein Geld mit Anstand zu verwenden, und genießt es dann doppelt, weil die Verwendung mit Bewußtsein, mit Bedachtsamkeit geschieht. Die meisten unserer Familien bringen auch den Armen, der Kunst und oft auch dem Vaterland ihr Scherflein. Man kennt bei uns den geistigen Genuß des Geldes; aber hier wird alles für eitle Pracht, die nicht der Besitzer, sondern allenfalls nur der Zuschauer genießt, und für die Sinnlichkeit verschwendet. Wenn man die darbende Armut zu Paris neben dem Überfluß sieht, so tröstet doch den Menschenfreund wieder die Erinnerung, daß es in der Stadt einen Beaumont und einen Pfarrer von Sulpice gibt, die einen großen Teil von dem Überfluß der Reichen unter die Dürftigsten verteilen. Aber hier tröstet einen nichts über den traurigen Anblick der alten und oft kranken Armen, die sich im Dunkeln in die Bier- und Kaffeehäuser schleichen, um sich für den andern Tag ihr Brot zu betteln, während daß der Große öfters auf einer Schüssel so viel auf seine Tafel setzt, daß eine bürgerliche Familie ein Jahr lang davon leben könnte.
Die Kunst genießt vom Reichtum der hiesigen Großen so wenig als die Armut. Fast alle ihre Paläste und Gärten verraten nichts als eine geschmacklose Verschwendung. Von Sammlungen von Kunstdenkmalen habe ich außer der liechtensteinischen Gemäldegalerie in Privathäusern nichts Merkwürdiges auffinden können. Diese kann freilich allein für viele Sammlungen von der Art gelten. Sie besteht aus mehr als sechshundert Stücken von den ersten Meistern und ist in zwölf Zimmer verteilt, die einen herrlichen Anblick darbieten. Man sieht viele Tafeln von Franceschini, Leonardo da Vinci, Rubens, Guido, Michael Angelo Caravani, Lucca, Castiglione, Pietro Testa, Weenix und van Dyck. Rubens nimmt sich hier vorzüglich aus. Aber das ist auch alles, was man außer dem Hofe in den vielen Palästen hier sehen kann.
Ich hätte bald einen Zug vergessen, der den hiesigen Aufwand sehr charakterisiert. In einigen Häusern, die nach dem höchsten Ton leben wollen, ist es Sitte, wenn große Tafel gegeben wird, in einem Nebenzimmer mehrere Dosen Tartarus Emetikus und Lavoirs 43 bereitzumachen. Die Gäste, welche an der Tafel Blähungen und Unverdaulichkeiten empfinden, nehmen ohne die geringste Bedenklichkeit einen Abtritt, erbrechen sich und fangen dann von neuem an, den Magen zu füllen.
Die Musiken sind das einzige, worin der Adel Geschmack zeigt. Viele Häuser haben eine besondere Bande Musikanten für sich, und alle öffentlichen Musiken beweisen, daß dieser Teil der Kunst in vorzüglicher Achtung hier steht. Man kann hie vier bis fünf große Orchester zusammenbringen, die alle unvergleichlich sind. Die Zahl der eigentlichen Virtuosen ist geringe; aber was die Orchestermusiken betrifft, so kann man schwerlich etwas Schöneres in der Welt hören. Ich habe schon gegen dreißig bis vierzig Instrumente zusammen spielen gehört, und alle geben einen so richtigen, reinen und bestimmten Ton, daß man glauben sollte, ein einziges übernatürlich starkes Instrument zu hören. Ein Strich belebt alle Violinen und ein Hauch alle blasenden Instrumente. Einem Engländer, neben den ich zu sitzen kam, schien es wunder, durch eine ganze Oper, ich will nicht sagen, keine Dissonanz, sondern nichts von allem dem zu hören, was sonst irgend ein hastiger Vorgriff, ein etwas zu langes Schleifen oder ein zu starker Griff oder Hauch eines Instruments in starken Orchestern zu veranlassen pflegt. Er war entzückt über die Reinheit und Richtigkeit der Harmonie und kam doch soeben aus Italien. Es sind gegen vierhundert Musikanten hier, die sich in gewisse Gesellschaften teilen und oft viele Jahre lang ungetrennt zusammenarbeiten. Sie sind einander gewohnt und haben gemeiniglich eine strenge Direktion. Durch die große Übung und dann durch den Fleiß und die Kaltblütigkeit, welche den Deutschen eigen ist, bringen sie es so weit. An einem gewissen Tag des Jahres geben diese vierhundert Künstler zusammen ein Konzert zum Besten der Musikantenwitwen. Man versicherte mich, daß dann alle die vierhundert Instrumente ebenso richtig, deutlich und rein zusammen spielten, als man es von zwanzig bis dreißig hört. Gewiß ist dieses Konzert das einzige von der Art in der Welt.
Eins der schönsten Schauspiele für mich waren in den letzten Sommernächten die sogenannten Limonadehütten. Man schlägt auf den größern Plätzen der Stadt ein großes Zelt auf, worin zur Nachtzeit Limonade geschenkt wird. Einige hundert Stühle stehen oft darum her und sind mit Damen und Herren besetzt. In einer kleinen Entfernung steht eine starke Bande Musikanten, und die große Stille, welche die zahlreichste Versammlung hier zu beobachten pflegt, tut alsdann eine unbeschreiblich gute Wirkung. Die vortreffliche Musik, die feierliche Stille, das Vertrauliche, welches die Nacht der Gesellschaft einflößt, alles gibt dem Auftritt einen besondern Reiz.
Um die Equipagen von Wien zu sehen, muß man zur Sommerszeit ein Feuerwerk im Prater besuchen. Der Prater ist ein natürlicher Eichen- und Buchenwald nahe bei der Stadt auf einer Insel der Donau, auf deren obern Teil die große Vorstadt Leopoldstadt liegt. Unfern des Einganges liegen unter dem Schatten der Bäume gegen dreißig Hütten zerstreut mit vielen Bänken und Tischen umher, wo man Essen und Trinken in Überfluß haben kann. Der Ort wird täglich stark besucht, ist aber bei einem Feuerwerk besonders merkwürdig. Gegen 12.000 Menschen versammeln sich da nach und nach, und die nehmen im Walde ihr Abendessen. Auf das gegebene Zeichen, wenn die Nacht eingebrochen ist, strömt die Gesellschaft von den Tischen weg auf die ringsum mit hohen Bäumen umgebene Wiese hin, wo das Schauspiel gegeben wird. Ein schönes großes Amphitheater erhebt sich dem Feuerwerk grade gegenüber und ist größtenteils von einigen hundert Damen besetzt, deren hochgeschminkte Wangen, kostbarer Schmuck und leichte Sommerkleidung im Licht des Feuerwerkes eine besonders gute Wirkung tun. Das Parterre zwischen dem Amphitheater und den Maschinen ist dicht mit Mannsleuten angefüllt. Der merkwürdigste Auftritt folget nach dem Beschluß des Feuerwerkes. Ein Zug von 12- bis 1500 Kutschen, Pirutschen und allen Gattungen Fuhrwerks geht aus dem Walde in die Stadt in einer so geraden und gedrängten Linie, daß, wenn er sich manchmal unter dem Tore stopft, die Deichseln der hintern Wagen mitten auf die Kasten der vordern stoßen, und da man nicht anderst als im stärksten Trott oder Galopp fährt, so wird mancher Wagen auf diese Art durchstoßen und die darin sitzenden Personen auf das vordere Fenster geworfen. Die meisten sind herrschaftliche Equipagen mit vier bis sechs Pferden, deren Anzahl überhaupt sich hier auf ohngefähr 3.500 beläuft. Der Fiaker sind gegen 560 und der Stadtlohnwägen gegen 300. Die letztern sind nicht numeriert, haben bessers Geschirre, sind überhaupt schöner, werden meistens von den Wirten gehalten und teurer bezahlt als die erstern. Bei all dem starken Fahren der vielen Wagen fällt doch bei einem solchen Anlaß nicht die geringste Unordnung vor. Die Fußgänger haben ihren besondern Weg, den kein Kutscher befahren darf. Die Brücke zwischen der Leopoldstadt und dem Prater, worauf das Gedränge am stärksten, ist in vier Teile geteilt. Die zwei außern sind für die Fußgänger und der eine von den innern für die Wagen, die hinein-, und der andre für die, welche herausfahren. Diese Ordnung wird durch den Wald und auf der Chaussee durch die Vorstadt bis in die Stadt selbst beobachtet. Einige Kürassier mit gezogenen Säbeln sorgen dafür. Bei öffentlichen Festen weiß man hier von keinen besondern Unglücksfällen, und alles Unheil, welches hier die Kutschen anrichten, geschieht im alltäglichen Getümmel der Stadt. Man kann sich nicht erinnern, daß in einem Jahr über sieben Personen sind totgefahren worden, da sich hingegen zu Paris die Zahl der jährlich Totgefahrnen im Durchschnitt der letztern zehn Jahre auf zwanzig beläuft.
Was das Feuerwerk selbst betrifft, so ziehe ich es allen hiesigen Schauspielen und selbst dem Nationaltheater vor. Herr Stuwer, von welchem ich einige sahe, versteht die Kunst. Er stellt mit allem mannigfaltigen Farbenspiel, den Schattierungen und dem gehörigen Perspektiv ganze Gärten, große Paläste und Tempel in fast natürlicher Größe in Feuer dar. Seine Maschinen sind besonders schön und groß und machen oft sechs bis acht Fronten von fünfzig bis sechzig Schritt in die Länge. Bei Eröffnung des Schauspiels fliegen auf einmal viele hundert Raketen unter einem dem Donner ähnlichen Getöse in die Luft, wovon der ganze Wald erbebt und wobei die Gegend auf einen Augenblick wie bei Mittag erleuchtet ist. Er hatte noch vor einigen Jahren an Herrn Girandolini einen Nebenbuhler, der ihm, nach dem Zeugnis aller Kenner, in der Kunst überlegen war, aber das Opfer der Bigotterie des Publikums werden mußte. Herr Girandolini, welcher ohnehin als ein Fremder mit mehrern Schwierigkeiten zu kämpfen hatte als Herr Stuwer, mußte sich auf das äußerste anstrengen, um sich einen Fonds zu machen und es seinem Nebenbuhler gleichtun zu können. Er hatte, wie Herr Stuwer, einen großen Schwarm von Arbeitern den ganzen Herbst und Winter und das Frühjahr durch in Sold. Als er im Sommer sein erstes Schauspiel geben und es, um sich seines Aufwandes zu erholen, so prächtig als möglich machen wollte, kam an dem Tag, der zur Ausführung desselben angekündigt war, ein Donnerwetter und verdarb ihm fast alles. Als er auf seinem Gerüst die Wolken heranziehn und sein Unglück vor Augen sah, fluchte er mit der einem Italiener natürlichen Lebhaftigkeit dem Donner entgegen, und nun schrien ihn seine eigne Arbeiter als einen Atheisten aus. Er war in seinen Reden überhaupt zu unbedachtsam, und das Publikum faßte ein Vorurteil gegen ihn, welches er mit aller seiner Kunst nicht besiegen konnte. Man schalt ihn einen Freigeist und Gotteslästerer. Die Anhänger seines Nebenbuhlers suchten dieses Vorurteil auf alle mögliche Art zu verstärken. Die Kaiserin selbst ward durch das große Geschrei und die Intrigen der Leute, die sie umgaben, gegen ihn eingenommen. Wenn ein fremder Großer kam, den sie mit einem Feuerwerk unterhalten wollte, so hatte Herr Stuwer den Vorzug. Dieser hatte gemeiniglich 3- und 4.000 Gulden Einnahme, da Herr Girandolini froh sein mußte, wenn er es auf 1.500 bis 2.000 brachte. Auf diese Art konnte er sich nie aus seinen Schulden ziehn und kam endlich so weit zurück, daß er wegen den Kosten seinem Nebenbuhler den Preis überlassen und davongehen mußte. Ich habe dir in einem andern Brief gesagt, daß hier das Verdienst sehr oft ein Opfer der Kabalen ist, und nun hast du auch ein Beispiel, wie es von den Vorurteilen des Pöbels mißhandelt wird.
Zu den Sommerbelustigungen, wo man die Art der hiesigen großen Welt sehen kann, gehört auch der Augarten. Dieser ist ein großer Park von schönen Alleen und schönem Buschwerk auf der nämlichen Donauinsel, worauf der Prater ist, an welchen er gegen Osten angrenzt. Er ist ein Werk des Kaisers, welcher ihn, wie die Aufschrift über dem Tore sagt, als ein Freund aller Menschen zu einem Belustigungsort aller Menschen gewidmet hat. Allein, es genießt ihn nur der feinere Teil des Publikums, und der Pöbel fühlt selbst, daß er hier in einem schlechten Licht steht. Er schließt sich selbst aus und tut wohl daran. Es ist zum Staunen, wie dieser Park in so kurzer Zeit das werden konnte, was er ist. Der Kaiser mit seinem lebhaften Temperament wollte sein Geschöpf gleich in vollem Wuchs vor sich sehn und sparte keine Kosten, um unzählige halb und ganz ausgewachsene Bäume oft aus der größten Ferne herbeizuschaffen. So verschieden auch die Gattungen der Bäume und des Gebüsches und die Alleenordnungen sind, so ist er doch zu regelmäßig und hat zu wenig Mannigfaltigkeit, als daß man ihn einen eigentlichen Englischen Garten heißen könnte. Ein ziemlich breiter Arm der Donau, welcher seine Ufer bespült, gibt ihm das meiste Leben. Jenseits des Flusses hat man einen breiten Wald durchgehauen, und diese Waldbahn fällt mit einer der Hauptalleen des Parks in eine Linie. Das Perspektiv, welches dadurch gebildet wird, ist meines Erachtens das Beste im ganzen Garten. Es wird in einer fast unabsehbaren Ferne vom mährischen Gebirge wie von einem leichten Gewölke geschlossen. In einem prächtigen Pavillon hat man alle Erfrischungen und Billard. Wenn man diesen Ort in seinem Glanz sehen will, muß man ihn in den höchsten Sommermonaten morgens besuchen. Es ist seit einigen Jahren hier in der großen Welt Sitte, daß man im Augarten eine Kur von mineralischem Wasser trinkt, wenn man auch noch so gesund ist. Die Einbildung hat wirklich an diesem Ort die Geselligkeit und Vertraulichkeit eingeführt, die sonst an den berühmten Gesundbrunnen zu herrschen pflegt, und man genießt hier wirklich das Offene und Freie der Gesellschaft, wodurch sich Spa, Pyrmont und andre Plätze dieser Art berühmt gemacht haben, ob man schon das nötige Kurwasser von mehr als hundert Meilen her beschreiben muß. Alle Stände, besonders die Gelehrten und der Adel, mischen sich hier durcheinander. Die Damen trinken die Kur, um sich im Negligé zeigen zu können, und die Herren, weil die Damen im Negligé nicht so stolz und spröde als im großen Putz sind.
Es gibt noch verschiedene öffentliche Spazierplätze in der Stadt. Der, welcher am häufigsten besucht wird, ist der Stadtwall oder die sogenannte Bastei. Ob man schon hier der Sonne sehr ausgesetzt ist, so ist er doch gar oft gedrängt voll. Die Bürgerlichen können nachmittag nicht in die Kirche gehen, ohne zugleich auf dem Wall eine Tour um die ganze Stadt zu machen, wozu sie gerade eine Stunde gebrauchen. Die vom höhern Stande kommen dahin, um ihre Hunde zu produzieren, die hier ganz allein vor den Pferden und Wagen sicher sind. Die Hunde machen hier einen großen Artikel des Luxus aus, und man wetteifert darin wie in den Equipagen und Kleidern. Jetzt sind die kleinen Pommern Mode, und wenn ein Pommerchen schneeweiß oder kohlschwarz ist und eine scharfspitzige Schnauze hat, so wird es mit zehn bis fünfzehn Dukaten bezahlt. Fürst von ** hat eines um fünfundzwanzig Dukaten gekauft. Jeder Herr, der auf gute Lebensart Anspruch machen will, muß sein Spitzchen haben, welches hier der eigentliche Namen dieser Hunde ist. Die Bauern befinden sich wohl dabei und haben auf dem Vögelmarkt zugleich einen Hundsmarkt errichtet.
Der Garten des Belvedere in der Vorstadt, der Rennweg, welchen ehedem Prinz Eugen besessen, ist nun auch ein öffentlicher Spazierplatz. Der Garten hat an sich nichts Vorzügliches, aber der Palast ist sowohl wegen seiner Bauart als besonders wegen seiner vortrefflichen Lage eines der merkwürdigsten Gebäude in der Stadt. Auf der Terrasse und den Balkons desselben beherrscht man die Aussicht über die ganze Gegend umher. Dieser Palast enthält seit einiger Zeit in zweiundzwanzig großen Zimmern die kaiserliche Gemäldegalerie. Der untere Stock ist den Italienern angewiesen, unter denen sich Tizian, Correggio, Guido, Paolo Veronese, Palma und Giorgione vorzüglich ausnehmen. Man zeigt auch zwei kleine Stücke, die von Raffael sein sollen; allein, wenn sie wirklich von Raffael sind, woran aber der Herr Unterinspekteur, welcher uns begleitete, selbst zweifelt, so gehören sie gewiß unter seine ersten Versuche. Das beste ist ein Cupido von Correggio in der Attitüde, wie er den Bogen spannt. Dieses Stück ist um 18.000 Dukaten, ich glaube, von Kaiser Karl dem Sechsten gekauft worden. Man war ehedem hier so fühllos gegen die Kunst, daß man dieses Meisterstück auf einem Speicher liegenließ und mit Füßen darauf trat. Es wurde stark beschädigt, und der Ausbesserer hat einen guten Teil desselben, besonders den Rücken, abscheulich verdorben. Zum Glück erhielt sich der schöne Kopf unverletzt: Schelmischer und doch zugleich kindischer gibt es kein Auge, weder im Kopf einer Kokette noch eines Adonis, als das Auge dieses Amors. Der Trotz auf seiner Stirne sticht mit einer scheinbaren Unschuld auf dem Mund sonderbar ab. Kurz, es ist Amor mit Leib und Seele. Da, wo das ursprüngliche Fleisch, welches Correggio seinem Geschöpfe gegeben, noch erkenntlich ist, übertrifft es alles, was jeder andere im Fleisch getan hat. Es wurden durch die Unachtsamkeit, welche der Hof bis unter dem jetzigen Kaiser gegen die Sammlung äußerte, noch mehrere Stücke vorn höchsten Wert verunstaltet, aber alle waren in der Ausbesserung glücklicher als der arme Cupido, dem ohnehin durch die hiesige Polizei so übel mitgespielt wird. - Im obern Stock prangen die Niederländer, die hier mit allem Recht mit den Italienern um den Rang streiten können. Man hat viele Wouwermans, Berghems, Rembrandts, van de Veldens und de Heems. - Die Galerie ist drei Tage in der Woche für jedermann unentgeltlich offen.
Die anstößigen Gemälde sind mit Vorhängen von grünem Taffet bedeckt, die aber jedermann nach Belieben aufziehen kann. Es sind einige darunter, bei deren Anblick der heilige Franz von Assis sich gewiß in Dornen wälzen würde. Es sind keine einzelne nackte Figuren, sondern Gruppen, die man im Leben nirgends als hinter Bettgardinen findet. In der Gesellschaft, worin ich die Galerie sah, waren verschiedene Damen und Fräulein. Die Herren zogen ohne alles Bedenken die Vorhänge auf. Ich hätte der so züchtigen Polizei zugetraut, daß sie wenigstens eine Affektation von äußerlicher Scham zur Sitte machen könnte: Aber einige von unsern Frauenzimmern sahen auch die geheimsten Spiele der schönen Göttin mit starren Augen an, und die andern hielten zwar die Fächer vors Gesicht, aber die Fächer hatten große Öffnungen, und sie konnten sich nicht überwinden, das Gesicht ganz wegzuwenden.
Eine halbe Stunde von der Stadt liegt die Sommerresidenz der Kaiserin, Schönbrunn, in einer sumpfichten Vertiefung, worin ich wegen der eingeschränkten Aussicht und der feuchten Luft keine zwei Tage aushalten könnte. Der Palast ist sehr weitläufig und wirklich in einem großen Stil gebaut. Die Möblierung ist kaiserlich. Verschiedene Säle sind mit den besten Tapeten aus der Fabrik der Gobelins ausgeschmückt, und die Tapezierung eines einzigen Saales von der Art hat gegen 300.000 Gulden gekostet. In dem dabei befindlichen Tiergarten ist ein Elefant das Merkwürdigste. Er ist von der größten Art aus Indien und ein Geschenk des jetzigen Statthalters von Holland, den er auf 10.000 Gulden zu stehen kam. Auf einer Anhöhe hinter dem Palast hat der Kaiser in antikem Geschmack eine Sala Terrena 44 mit zwei Säulengängen zu beiden Seiten bauen lassen und dadurch den Fleck bezeichnet, wo seine Mutter ihren Sommerpalast hätte hinbauen sollen, wenn sie eine reizende Aussicht und eine reine Luft hätte genießen wollen. Wenn die Kaiserin da ist, so sieht man außer den Kapuzinern und einigen alten Damen wenig schöne Welt. Unterdessen gehört doch dieser Ort auch zu den öffentlichen Spazierplätzen, denn der Garten ist zu jeder Zeit und der Palast während der Abwesenheit der Kaiserin für jedermann offen.
Unendlich mehr Reiz für mich hat der sogenannte Kaltenberg eine Stunde über der Stadt an der Donau. Der Weg hinauf geht durch ein vortrefflich angebautes Land. Zur Linken erblickt man in einiger Entfernung auf dem Abhang des Berges und im Schatten alter Eichen das sehr einfache Sommerhaus des Feldmarschalls von Lacy mit einem schönen Englischen Garten. Nach und nach gewinnt man die dicke Waldung auf der Höhe des Berges, und auf der Spitze desselben steht ein Kamaldulenser-Kloster 45 auf dem schönsten Gesichtspunkt, den man weit und breit nur immer aussuchen konnte. Vor dem Kloster sind unter den Bäumen einige Bänke um einen Tisch angebracht, wo die Herren ihre Frauenzimmer, welchen der Eintritt in das Heiligtum ohne besondere Erlaubnis des Erzbischofs verboten ist, ausruhen lassen, bis sie das Kloster besichtigt haben. Die Wohnungen der Mönche sind kleine abgesonderte Häuser, wobei jeder sein eignes Gärtchen hat. An der äußersten Zelle bildet der Garten eine Terrasse, von welcher man senkrecht über einen sturzdrohenden Felsen herab in die Donau sieht und eine Aussicht beherrscht, deren ein Mönch von der Art wirklich unwürdig ist. Man hat die ganze Stadt, wie in einem Grundriß, zu seinen Füßen. Man glaubt das Getöse des Menschengewühls zu hören, welches sie belebt. Man übersieht diesen Teil von Österreich bis an die Grenzen von Mähren und Ungarn. Die majestätische Donau windet sich durch die unabsehbare Fläche, und in großer Ferne, wo sie sich mehr ausbreitet oder von keinem Gehölze und keinen Erderhöhungen gedeckt wird, schimmert sie stückweise mit Silberglanz aus der Landschaft hervor. Zur Rechten, wenn man die Stadt gerade vor sich hat, senkt sich der mit Holz bekrönte Berg bis an die Vorstädte hin, und zur Linken zieht sich sein hoher Rücken längst der Donau hinauf, wo man in einer Entfernung von einer Stunde den Goldenen Berg von Enzersdorf erblickt, der einen der besten Weine von Österreich liefert. Die vielen und schönen Dörfer, die blauen, am Rand des Horizonts schwebenden Berge, die vielen und mannigfaltigen Partien Gehölze und das Wasser geben der weiten Fläche Leben genug. Ich konnte meine Entzückung über den Anblick gegen den Mönch, der neben mir stand, nicht bergen. Ich sagte ihm, ich hielt' den Bruder für glücklich, der die äußerste Zelle zu bewohnen hätte. "Nein", antwortete er, "wir sind nicht Ihrer Meinung. Keiner von uns will in dieser Zelle wohnen, weil sie dem Wind zu sehr ausgesetzt und im Winter noch einmal so kalt als eine andre Zelle ist." Auf einmal brachte mich der Mann aus der Entzückung zurück. Du weißt, ich bin einer von denen, die im Sommer nicht an den Winter denken können und denen nichts auffallender ist, als wenn man sie mitten im Genuß der schönen Seite eines Dinges an die häßliche desselben erinnert, so natürlich es auch sein mag. - Nachdem wir alles, auch die Betten, Gebetbücher, Zilizien 46 etc. der Mönche besichtigt hatten, gaben wir ihnen Geld für einige Messen für uns, welches das gewöhnliche Trinkgeld der Fremden ist, und eilten unter die Bäume zu unserm Frauenzimmer. Wir hatten eine kalte Küche und einige Bouteillen Schumlauer und St. Jörger Ausbruch 47 vorausgeschickt. Der Tag war schön, das Frauenzimmer bei guter Laune, und wir waren alle aufgelegt, den Vorhof des Heiligtums in Zucht und Ehre ein wenig zu profanieren. Diese Wallfahrt ward in den ersten Tagen meines hiesigen Aufenthalts veranstaltet, und seit der Zeit habe ich noch verschiedene Male, auch bei der rauhen Witterung des Herbstes, in einer weniger zahlreichen Gesellschaft den lieben Ort besucht.
Es gibt hier noch verschiedene andre öffentliche Spazierplätze, worunter man auch den Kalvarienberg zu Herrnals und einige andre Andachtsörter zählen kann; denn das Frauenzimmer und die jungen Herren treiben hier die gegenseitigen Eroberungsoperationen weiter als an irgendeinem andern öffentlichen Ort, weil die Maske der Andacht sie dem Auge der Polizei versteckt.
Der hiesige Hof hat verschiedene kostbare Sammlungen, die er alle das Publikum soviel als möglich genießen läßt. Das kaiserliche Münzkabinett hat in Europa wenig seinesgleichen. Die Zahl der antiken Münzen beläuft sich auf 22.000 Stück. Jene der neuern Münzen ist ungleich größer und kostbarer. Die vollständige Sammlung aller Münzen und Medaillen von Karl dem Großen bis auf unsere Zeiten macht einen besondern und, in Rücksicht auf die Geschichte des Mittelalters, unschätzbaren Teil dieses Kabinetts aus. Es war zwar einiger Vorrat von Karl dem Sechsten da, aber die Sammlung hat doch ihre Existenz eigentlich dem Kaiser Franz zu danken, der unsägliche Summen darauf verwandte und sie zu seiner Lieblingsunterhaltung machte. Von den mechanischen, physischen und Naturalien-Sammlungen sage ich dir nichts, als daß sie, wie alles, was der Hof hat, von jedermann ohne die geringste Beschwerde besichtigt werden können. Die Bibliothek ist ohne Vergleich die wichtigste und gemeinnützigste. Sie ist eine der zahlreichsten in der Welt und besteht aus mehr als 300.000 Bänden, worunter ohngefähr 12.000 kostbare Handschriften sind. Das Gebäude, worin sie aufbewahrt wird, ist eins der schönsten in der Stadt. Sie ist alle Tage, die Sonntage ausgenommen, von Morgen bis um 12 Uhr für jedermann offen. Die Liebhaber finden einen geräumigen Saal mit einem langen Tisch und gemächlichen Stühlen nebst Tinte und Papier, um die Bemerkungen aufschreiben zu können, die sie unter dem Lesen allenfalls machen. Ein Sekretär der Bibliothek weist sie in den Katalogen zurecht, und einige Livreebedienten des Hofes bedienen sie mit dem, was sie fodern, auf den Wink. Im Winter ist der Saal geheizt, und man hat ein besonderes Gestelle neben der Türe angebracht, worauf jeder das Buch, welches er ganz durchlesen will, an einen bestimmten Ort jedesmal hinstellen und des andern Tages finden kann. Wenn ein Liebhaber auch das ganze Jahr hindurch ununterbrochen die Bibliothek besucht, so wird doch keinem Bedienten einfallen, ein Trinkgeld von ihm zu erwarten. Kurz, dies Institut spricht mehr als jedes andre von der edeln und gemeinnützigen Denkensart des Hofes. Ist man einmal mit einem der Bibliothekare bekannt, von denen immer einer in einem Nebenzimmer zugegen ist, so hält es auch nicht so schwer, die verbotenen Bücher zu bekommen, als einige Leute wollen behaupten. Herr Pilati erzählt, man habe ihm gesagt, ohne einen Erlaubnisschein des Erzbischofs bekäme man kein gutes Buch. Man hat ihn irrig belehrt. Ich lese seit einiger Zeit die "Geschichte des Tridentinischen Konziliums" 48 von Bruder Paolo und habe Machiavells Werke schon durchgelesen, ohne den Herrn Erzbischof um Erlaubnis gefragt zu haben.
Nebst dieser Hofbibliothek gibt es noch verschiedene andere öffentliche Büchersäle. Der Buchhändler von Trattner kam auch auf den Einfall, ein gelehrtes Kaffeehaus in seinem großen Palast zu errichten. Er versprach den Subskribenten, alle Zeitungen, alle periodische Schriften und alle fliegenden Broschüren der gangbarsten lebenden Sprachen zu liefern. Vielleicht hätte dieser Plan den ersten Grund zu einer Akademie oder gelehrten Gesellschaft gelegt; allein die Subskribenten sahen bald, daß es mehr auf eine feine Beutelschneiderei als auf ein nützliches Institut hinauslief. Dieser Herr von Trattner ist überhaupt ein sonderbarer Mann. Er zwingt die Professoren, ihm ihre Manuskripte in Verlag zu geben, und zahlt ihnen keinen Kreuzer dafür. Als Hofbuchhändler behauptet er, das Recht dazu zu haben, und die Gunst der Kaiserin, die er sich auf eine unbegreifliche Art erwerben konnte, machte ihn zu einem kleinen Tyrannen aller hiesigen Buchhändler und Gelehrten. Bei dem großen Ton, den er affektiert, schämt er sich nicht, zu den niederträchtigsten Kniffen seine Zuflucht zu nehmen. Er druckt mit kaiserlichem Privilegium hier Bücher nach, die mit kaiserlichem Privilegium in andern Provinzen Deutschlands gedruckt werden. Man sagte mir, er habe sogar die Kaiserin bereden können, der Verlag eines noch so gängigen Buches wäre für den Buchhändler kein Gewinn, und man müsse ihm einen Teil der Druckkosten vergüten, welches die gute Monarchin auch bei einigen Werken, deren Druck sie befördern wollte, getan haben soll. Sosehr er der Kaiserin auf einer Seite schmeichelt, so ungehorsam ist er ihr auf der andern. Durch ihn kommen die meisten verbotenen Bücher in die Stadt. Wenn du es ihm teuer genug bezahlest, so kannst du die"Academie des dames", den "Dom B...", die "Pucelle d'Orléans", den "Portier des chartreux" und die ganze skandalöse Bibliothek bei ihm haben.
Die Lektüre des hiesigen Publikums, überhaupt genommen, ist äußerst fade. Es ist lange nicht wie bei uns, wo man Montesquieus "Esprit des lois", Voltaires Universalgeschichte, Rousseaus "Contrat social" und ähnliche Werke in Händen von Leuten findet, die gar keinen Anspruch auf Gelehrsamkeit machen. Hier sind viele Gelehrte, die diese und ähnliche Bücher nicht kennen und die es einigen vom hohen Adel und einigen Offiziers überlassen, sich mit denselben abzugeben. Bouffonnerien 49 machen hier ganz allein ihr Glück, und auch der bessere Teil des lesenden Publikums schränkt sich auf Schauspiel, Romanzen, Feenmärchen und dergleichen mehr ein. Ich kenne ein ganzes Dutzend junger Gelehrten, wie man diese Kreaturen hier heißt, die außer der Schule nichts als einige deutsche und französische Dichter gelesen haben. In dem Lesesaal der kaiserlichen Bibliothek machte ich einigemal einen Tour um den Tisch herum, um den Geschmack der vielen Leser kennenzulernen. Zwei bis drei von ohngefähr vierundzwanzig lasen alte Schriftsteller, einer las Sullys "Memoires", und alle übrigen hatten weder mit der Geschichte noch mit Alten, noch mit sonst etwas zu tun, das einer wirklichen Wissenschaft ähnlich wäre. Dramaturgien, Gesänge, Romanen und solche Dinge bedeckten den ganzen Tisch. Einige wenige hatten kostbare Werke, aber, wie man deutlich sehen konnte, bloß um mit Besichtigung der Altertümer von Herculanum oder der florentinischen Sammlungen einige müßige Stunden zuzubringen. Ich sah verschiedene Male einige Ungarn am Tische, die mit ihrer Lektüre alle Deutschen beschämten, die zugegen waren. Die ließen sich ihre seltensten vaterländischen Geschichtschreiber geben, und man sah in ihrer Miene, daß sie ihren Verstand mit der Lektüre nährten und ihr Herz zugleich wärmten. Sollte nicht die Regierungsverfassung etwas beitragen, daß die Ungarn, wie ich ziemlich allgemein bemerkt habe, mehr Vaterlandsliebe haben und folglich auch mehr auf die Geschichte ihres Vaterlandes achten als die Österreicher? Unter diesen hab ich noch keinen auffinden können, der an der Geschichte seines Vaterlandes einen besondern Geschmack fände.
Auf diese Art ist es sehr begreiflich, daß die meisten Gesellschaften hier, welches mir gleich anfangs auffiel, so tot sind. Die Materie vom Theater ist bald erschöpft, und dann hat man zur Unterhaltung des Gespräches keine Hilfsmittel, mehr als die täglichen Stadtneuigkeiten und schale Bemerkungen darüber. Das Frauenzimmer ist hier allein imstand, ein gesellschaftliches Gespräch beim Leben zu erhalten. Es sticht durch natürlichen Witz, Lebhaftigkeit und durch mannigfaltige Kenntnisse mit dem hiesigen Mannsvolk erstaunlich stark ab. Ich hab hier in drei bis vier ansehnlichen Häusern Bekanntschaft, worin die Herren in den ersten fünf Minuten am Ende von allem sind, was sie zu sprechen wissen, und ohne Galanterien einzumischen, finde ich bei ihren Weibern und Töchtern eine unerschöpfliche Quelle von lebhaftem Gespräche. Es ist wahr, oft wird der Faden des Gesprächs bloß durch die natürliche Neugierde des Frauenzimmers fortgesponnen; aber alle Fragen, welche die Neugierde sie tun läßt, verraten schon einige Bekanntschaft mit dem Gegenstand, worauf sie sich beziehen, oder wenigstens mit dem Gegenteil davon, und sie sammeln dadurch einen Vorrat zu neuen Bemerkungen und zur Unterstützung eines neuen Gesprächs. Eben diese Neugierde fehlt den Männern, die überhaupt zu stumpf sind und zu wenig von allem dem haben, was dem Geist einen Schwung gibt.
Das hiesige Frauenzimmer ist schön und stark von Wuchs, nimmt sich aber weder durch eine vorzügliche Gesichtsbildung noch durch eine schöne Farbe aus. Es ist frei und lebhaft in seinen Gebärden, seinem Gang und seinem Gespräche. Es ist gesetzter, männlicher und entschlossener als das von Paris, aber nicht so heroisch als das von London. Ich kann dir keinen bessern Begriff von ihm geben, als wenn ich dir sage: es ist das Mittel zwischen den Engländerinnen und Französinnen. Große Schönheiten sieht man hier wenig, aber auch wenig starke Karikaturen. In der Winterkleidung, die es nun schon seit dem Anfang Oktobers trägt, hat es unsere Landsmänninnen noch nicht nachgeahmt. Diese läßt ihm ungemein schön und besteht in einer mit kostbarem Pelz ausgeschlagenen und bis auf die Füße reichenden Polonaise. Da sich diese Kleidung mit keinen hohen Poschen 50 verträgt, am Oberleib geschlossen ist und auf den Unterteil nachlässig genug fällt, um seine Umrisse und Bewegungen sehen zu lassen, so hat sie wirklich etwas von der Simplizität eines griechischen Gewandes. Ein Zug von Andächtelei, welcher dem hiesigen Frauenzimmer eigen ist, ist mit einer gewissen Empfindsamkeit des Herzens verwebt und der Liebe, Freundschaft und Wohltätigkeit eher zuträglich als nachteilig. Moore hat diesen Zug richtig bemerkt; aber nichts setzt ihn in ein helleres Licht, als wenn eine Dame in einem Kloster Messen bestellt und zu gleicher Zeit den Armen Almosen gibt, damit Gott ihren Wunsch erfülle und ihren kranken Cicisbeo 51 bald gesund werden lasse. Das Cicisbeat steht hier auf dem nämlichen Fuß wie in Italien. Unter den Großen erhält es sich durch den einmal angenommenen Geschmack, die von der untersten Klasse suchen Geld dadurch zu verdienen, und bloß ein Teil des Mittelstandes, nämlich die Fabrikanten und Kaufleute, kennen die eheliche Eifersucht. Es gab hier vor einigen Jahren einen seltsamen Auftritt. Einer vom hohen Adel besuchte einigemal eine Kaufmannsfrau. Den Mann juckte es auf der Stirne, und als der Kavalier einst bei seiner Frau anklopfte, schlich er sich auf die Seite und ließ alle seine Bedienten mit großen brennenden Fackeln sich auf die Treppe stellen. Er ging sodann ins Zimmer und sagte dem Kavalier, die Bedienten warteten mit Lichtern auf ihn, er möchte sie nicht lange warten lassen. Dieser war in der größten Verlegenheit von der Welt; aber der Kaufmann half ihm bald heraus, nahm ihn beim Arm und führte ihn sehr zeremonisch die Treppe herunter bis an die Türe; die Bedienten schritten mit den Fackeln voraus, und ob es schon heller Mittag war, leuchteten sie doch bis mitten auf die Straße. Der Kaufmann blieb unter der Türe stehen, machte Bücklinge über Bücklinge, und indem er sich so laut, als er schreien konnte, dem Herrn gehorsamst empfahl, nannte er zugleich seinen Namen. Das zuschauende Publikum brauchte zur Erklärung dieses Auftrittes nichts als den Namen des Kavaliers zu hören, denn die ganze Stadt wußte, daß er selten in einer andern Absicht in ein Bürgerhaus ging, als um dem Hausherrn Hörner aufzusetzen.
Die Wollust schweift hier selten ins Abscheuliche und Unnatürliche aus. Ich kenne zwar einen jungen Menschen vom Niederrhein, den eine Dame aus dem Fenster zu sich rief und den es bald reute, daß er dem Wink gefolgt war. Er fand die Dame mit ihrer Tochter im Schlafgemach, und beide fingen ein heftiges Gezänke an, welcher er zuteil werden sollte. Der gute Mensch suchte die Türe wieder, aber beide hingen sich mit wollüstiger Wut an ihn. Er mußte endlich den Vertrag eingehen, daß er wechselsweis eine nach der andern bedienen wollte. Er erfüllte seinen Vertrag so heldenmäßig, daß man ihm große Versprechungen machte, wann er wiederkommen wollte, welches er nicht für gut fand. Allein, diese Dame und ihre Tochter waren, wie der junge Mensch selbst glaubte, allem Anschein nach Fremde.
Ohne zu bedenken, daß jede große Stadt zum Genuß des sinnlichen Vergnügens reizt, so ist hier der etwas unmäßige Genuß unter allen großen Städten in Europa am leichtesten zu entschuldigen. Die Wollust hat hier mehr Nahrung als an irgendeinem andern Ort. Die Zahl der ganz Armen ist hier nach dem Verhältnis ungleich kleiner als zu Paris und vielleicht auch geringer als zu London. Alles, sogar die Kleidung der geringsten Dienstmagd, spricht von einem hohen Wohlstand. Die Verschwendung des großen Adels, die vielen und starken Besoldungen des Hofes und die ausgebreitete Handlung der Bürgerschaft befördern den Umlauf des Geldes ungemein. Man schätzt die Summe des in der Stadt beständig zirkulierenden Geldes auf zwölf Millionen Kaisergulden oder auf ohngefähr einunddreißig Millionen Livres. Der Erwerb ist leichter als irgend anderswo, und Wien ist vielleicht der einzige Ort, wo der Preis der Lebensmittel mit der Masse des zirkulierenden Geldes in gar keinem Verhältnis steht. Die Fruchtbarkeit und der Geldmangel des benachbarten Ungarns ist die Ursache davon. Man hat hier trinkbaren Wein um sechs Kreuzer die Maß und um zwölf Kreuzer ein gutes Mittagessen. Es ist ein Wirt hier, welcher um dreizehn Kreuzer eine Tafel gibt, die aus Suppe, Zugemüs mit einer Beilage von Karbonaden, Würsten oder gebratne Leber und Rindfleisch besteht, ein Schoppen Wein und das nötige Brot mitgerechnet. Hier könnte der Homme à quarante écus 52 wirklich bestehen; aber wenn er mehr als vierzig Taler hätte, so ist die Versuchung, mehr zu vertun, zu stark, als daß er seiner Ökonomie getreu bleiben könnte. Je mehr die Natur gibt, desto mehr Bedürfnisse macht sich der Mensch, und hier ist sie gegen ihre Kinder wirklich so verschwenderisch, daß sie es auch werden müssen. Die unmäßig große Anzahl der reichbesoldeten Hofbedienten, der zahlreiche Adel und die vielen Fremden, die sich bloß des Vergnügens halber hier aufhalten, wissen von keiner bessern Beschäftigung, als ihrem Vergnügen nachzuhängen. Reichtum, Müßiggang und die Freigebigkeit der Natur müssen ein Volk wollüstig machen, dessen Religion ohnehin das Gegenteil von aller Frugalität 53 ist und dessen Regierung die Schnellkraft seines Geistes auf keine andere Gegenstände zu lenken weiß.
Die Handlung der Stadt ist sehr blühend. Lange wußte sie die Vorteile nicht zu benutzen, welche ihr die Natur darbot, und ob sie schon einen der größten Flüsse beherrscht, der bis auf etliche und siebzig deutsche Meilen aufwärts schiffbar ist und ihr abwärts einen Weg bis ins Schwarze Meer und die Levante öffnet, so lag doch bis unter die vorige Regierung aller Handlungsgeist darnieder. Karl der Sechste tat zwar zur Aufnahme des Handels und der Industrie sein mögliches. Aber so glücklich auch seine Unternehmungen in verschiedenen andern Provinzen waren, so unglücklich waren seine Entwürfe für das Erzherzogtum Österreich und die Hauptstadt. Der hiesige Adel hielt die Kaufleute für eine Gattung aus dem Tierreich. Die Jesuiten hielten die Protestanten, die in der Folge das meiste für die hiesige Handlung taten, entfernt oder unterdrückten sie, wenn sie sich eingeschlichen hatten und emporkommen wollten. Der Hof war voll Schulden, und seine Kasse war für öffentliche Fonds und zur Unterstützung der tätigen und denkenden Partikularen zu schwach. Es fehlte bei Hof und unter dem Publikum an Kredit. Kaiser Franz fing an, die Finanzen auf einen soliden Fuß zu setzen. Er war selbst Kaufmann, und der Adel gewöhnte sich nach und nach, den industriösen Teil des Publikums mit weniger Verachtung anzusehen. Man fing an, die reichern Handelsleute zu adeln; und so einen schlimmen Begriff es einem von der hiesigen Sinnesart geben mag, so war doch dieser Kunstgriff, die Eitelkeit der Großen zu demütigen und jene der Kleinern zu privilegieren, in einem Lande notwendig, wo Verdienst, Tugend, Ehre und alles, was zwischen den Menschen einigen Unterschied macht, in den Wörtchen "Edler" und "von" einbegriffen war. Das Beispiel des jetzigen Kaisers von Popularität wirkt noch mehr zur Tilgung dieses so schädlichen Vorurteils. Wo es nur möglich ist, dem Stolz seines Adels einen schlimmen Streich zu spielen, unterläßt er es gewiß nicht. Er führt Künstler und Kaufleute von Verdienst bei der Hand in die ersten Gesellschaften. Die Herren, deren ganzer Wert auf dem politischen Aberglauben an einen Stern und an ein Band beruht, verziehen wohl den Mund und die Nase bei der Erscheinung eines Plebejers unter ihnen und lassen es auch an Witzeleien nicht fehlen, um ihn fühlen zu lassen, daß er aus seiner Welt in eine höhere getreten ist. Allein, ein Wort des Monarchen entwaffnet ihren Hohn, und je mehr sie sich sträuben, desto mehr Mühe gibt er sich, ihren erbärmlichen Stolz in die Enge zu treiben. Man sagte mir, er habe vor einigen Jahren zu Prag eine Bürgersfrau in eine adelige Gesellschaft geführt. Die Damen machten erstaunlich große Augen, aber der Kaiser, welcher es bemerkte, suchte sie in noch größere Verlegenheit zu setzen und machte mit der Bürgersfrau den ersten und einzigen Tanz.
Mit allem dem wäre die Handlung nie hier blühend geworden, wenn nicht die Fremden das meiste dazu beigetragen und die Ketzer etwas mehr Freiheit gefunden hätten, als man ihnen zu der Zeit gestattete, wo der Beichtvater des Regenten der Direktorialminister von allen Departements und die Politik des hiesigen Hofes ein Spiel der Jesuiten war. Die Leichtigkeit, womit so viele Familien großes Glück machen konnten, ist ein offenbarer und auffallender Beweis, wie sehr sie den Eingebornen an Verstand und Tätigkeit überlegen waren. Der Hofbankier, Baron von Fries, ein Mühlhauser von Geburt, konnte ohne beträchtliche Fonds in einer fast unglaublich kurzen Zeit zu einem der ansehnlichsten Wechsler von Europa werden. Er ist ein Mann von ohngefähr vier Millionen Kaisergulden. Die meisten der vornehmsten Handelsleute und Fabrikanten sind aus Schwaben, Franken, Sachsen und andern Gegenden Deutschlands. Die Bürger von Nürnberg, Augsburg, Ulm, Lindau und andern Städten, die mit schwachen und immer mehr abnehmenden Kräften gegen ihren Untergang kämpfen und wo der abscheulichste Despotismus unter der Maske der Freiheit herrscht, fanden hier ungleich mehr Vorteile, die ihnen sowohl die Natur als die Regierung darbot, als in ihren schwindsüchtigen Vaterstädten. Die meisten machten ihr Glück durch Verstand, Fleiß und besonders durch eine sparsame Lebensart, wodurch sie bei ihrer Niederlassung vor den so verschwenderischen Eingebornen zur Aufnahme ihres Gewerbes erstaunlich viel voraushatten. Auch Triest mußten die Fremden und besonders die Protestanten blühend machen.
Nun ist zwar die hiesige Handlung noch lange nicht das, was sie sein könnte; allein sie ist im Gang zu ihrer Größe und macht Riesenschritte. Die Fabriken mehren sich von Jahr zu Jahr. Man zählt hier schon einige hundert Seidenweberstühle und macht Sammet, Gros de Tours, halb- und ganzseidene Zeuge und besonders eine erstaunliche Menge Strümpfe und Sacktücher. Auch die Plüsch- und Cottonmanufakturen sind sehr beträchtlich, und der Handel mit inländischen und ungarischen Weinen, mit böhmischem und mährischem Leinwand, der über Triest nach Italien, Spanien, Portugal und in die Türkei verführt wird, mit rohem und verarbeitetem Eisen, Stahl und Kupfer, mit Leder, Porzellän und verschiedenen andern Artikeln beträgt einige Millionen. Von dem Handel der gesamten österreichischen Lande werde ich dir ein andermal Nachricht geben.
Der Hof geht in seiner Ermunterung zur Handlung so weit, daß er einen ansehnlichen Fonds bereithält, woraus unternehmende und einsichtige Partikularen unterstützt werden. Nach Gutbefinden der zu diesem Zweck niedergesetzten Kommission streckt man denselben sehr beträchtliche Summen vor, wovon sie in fünf, sechs bis zehn Jahren keine Interessen und dann stufenweis ein, zwei bis drei Prozent zu zahlen haben. Wenn einmal die Zucht der Eingebornen gebessert sein wird, und das sollte man nach den großen Erziehungsanstalten in der nächsten Generation erwarten, so fehlt es dem industriösen Teil der Einwohner auch zu den größten Unternehmungen nicht an Geld. Der reiche Adel wird, anstatt wie jetzt auf seine Schulden stolz zu sein, lieber mit einem klugen Bürger in Gesellschaft treten und, anstatt die verderblichen Küchenzettel täglich in die Hand zu nehmen, lieber sich jährlich einmal die Rechnung von seinem Gewinst von dem Kaufmann oder Fabrikanten vorlegen lassen. Das Mark des Landes, welches der Adel und die Klöster an sich ziehen, wird dann nicht mehr ein Raub von nichtswürdigen Bedienten und Müßiggängern werden, sondern sich in den Händen kluger und tätiger Bürger zum Besten des Staates mehren. Der große englische Adel schämt sich der Handlung nicht, und dadurch wird der Ertrag seiner Güter, so wie auch jener des ganzen Staates, verdoppelt. Das nämliche Geld, welches er aus seinen Herrschaften zieht, läuft erst durch eine Handlungskasse, bekommt vom Auslande Zuwachs, mehrt die Masse des Nationalvermögens und ist dann, wenn es in seine häusliche Kasse zurückkommt, aus einem Bach ein Strom geworden. Der größte Teil des hiesigen Nationalvermögens, welches ursprünglich ungleich ansehnlicher als das von England ist, wird vom innern Luxus verschlungen, noch ehe es von außen Zufluß erhalten kann. Ein guter Teil davon fließt auch gerade von der Quelle ins Ausland aus und ist für den Staat unwiederbringlich verloren. Es fehlt hier noch, woran es gemeiniglich zu fehlen pflegt, an den einfachsten Besserungsmitteln. Solange dem Adel durch eine frugalere und gemeinnützigere Erziehung nicht bessere Grundsätze beigebracht werden, so werden alle Entwürfe des Hofes zur Aufnahme der Handlung und Industrie nur Flickwerk sein. Die wallonischen und italienischen Abbes und die französischen Kammermädchen sind die Leute nicht, die dem Staat anstatt stolzer Verschwender nützliche Bürger liefern können.
Soeben breitet sich ein trauriges Gerüchte durch die Stadt aus. Die Kaiserin kam vor einigen Tagen von einer Spazierfahrt unpäßlich zurück, und nun soll diese Unpäßlichkeit zu einer gefährlichen Krankheit geworden sein. Die Ärzte befürchten eine starke Brustentzündung, welche hier bei den heftigen Wetterveränderungen immer die gewöhnliche Krankheit ist. Ich hoffe meinen nächsten Brief freudiger anfangen zu können, als ich diesen schließen muß. Lebe wohl.
Es ist geschehen. Die große Theresia, die mit allen ihren Schwachheiten doch eine der größten Frauen war, die je einen Thron besessen, ist nicht mehr. Ich sage dir nichts von den Klagen ihrer hinterlassenen Untertanen, die sie wie eine Mutter liebten, nichts von dem Gepränge, das ihre Leiche umgibt, und nichts von den großen Anstalten, die zu ihrer Beerdigung gemacht werden. Alles das kannst du in den Zeitungen besser haben, als ich es dir beschreiben kann. Auch von ihren letzten Augenblicken, die den Charakter eines Menschen am wenigsten aufschließen und wo er gewiß in seinem ganzen Leben am zweideutigsten ist, kann ich dir nicht viel sagen. Überdem sind die Nachrichten davon ziemlich widersprechend.
Soviel weiß man, daß sie in den letztern Jahren ihrer Auflösung mit etwas Bangigkeit und Furcht entgegensah. Die natürliche Schwäche alter Leute und dann die Besorgnis, ihr Thronfolger möchte einige Veränderungen vornehmen, von welchen ihr ahndete und die ihrem Herzen zuwider waren, mögen die Ursache gewesen sein. Auch als sich der Tod ihr allgemach näherte, konnte sie sich nicht sogleich fassen. Umsonst bat sie die Ärzte, ihre Kunst aufzubieten. Der Tod siegte. Als man ihr seinen grausamen Triumph für gewiß ankündigte, zeigte die Religion ihre Stärke, und sie ward eine Heldin, als sie überwunden war. Sie besprach sich noch einige Stunden lang mit ihrem Sohn und sorgte besonders noch für ihre Familie. Sie war die beste Mutter bis zu dem letzten Atemzug.
Der Monarch, welcher in den Jahren, wo das Gefühl der Ehre am lebhaftesten ist und zu großen Unternehmungen spornt, sich nun allein an der Spitze eines der mächtigsten Reiche in der Welt sah und eine auf ihre Gewalt eifersüchtige Mitregentin verlor, die bisher allen seinen großen Entwürfen im Weg stand, war in diesem Augenblick nichts als Sohn. Er vergaß alles und beweinte den Verlust einer Mutter, deren Herz er kannte.
Die Familienliebe des kaiserlichen Hauses ist äußerst merkwürdig. Ich muß dir noch einige Züge mitteilen, die den Charakter dieser großen Monarchin vortrefflich ins Licht setzen. - Sie hatte die Freuden des Ehebettes in vollem Maß genossen. Sie war keine Hässerin der Freude, aber die Wollust mußte bei ihr in den Schranken der Ehrbarkeit und Religion bleiben. Sie kannte den Wert der Liebe und hatte als Mutter nichts Angelegeners, als auch ihre Kinder die erlaubte Liebe schmecken zu lassen. Von Herzen gerne gab sie ihre Einwilligung zur Verheiratung ihrer Tochter Christine mit einem apanagierten Prinzen aus dem sächsischen Haus, obschon die Politik des Kaisers etwas dagegen einzuwenden hatte, daß sein Haus dadurch mit zuviel Nebenästen belastet werden könnte. Als ihr Sohn Maximilian Koadjutor des Deutschmeistertums ward und das Gelübde der Keuschheit ablegen mußte, bedung sie sich vom Papst ausdrücklich, daß er von diesem Gelübde dispensiert sein sollte, sobald er den Orden verlassen und sich begatten wollte. Auch die zwei noch ledige Prinzessinnen hätten Männer bekommen, wenn es bloß von ihr abgehangen hätte. Sie hätte sich immer für desto glücklicher gehalten, je mehr Enkel sie bekommen hätte, und wenn auch ihre Schatzkammer noch soviel darunter gelitten hätte. Sie hätte in jedem Anblick eines ihrer Kinder die Freuden des Ehestandes in der Erinnerung wieder genossen, und doppelt genossen, weil sie sie mit ihrem Kind hat teilen können. - Ein andrer schöner Zug von dieser Art ist, daß sie für ihre Kinder eine treue Mutter blieb, wenn sie auch noch so weit von ihr entfernt und noch so erhaben waren. Sie vergaß die Königinnen von Frankreich und Neapel, aller Entfernung und aller Erhöhung ungeachtet, so wenig, daß sie es auch noch in letztern Jahren nicht an Lehren und sogar, wenn sie es allenfalls für nötig erachtet, an sanften mütterlichen Verweisen nicht fehlen ließ. Ihr großer Sohn war schon Kaiser, als sie ihn auch in Gegenwart von andern noch in Kleinigkeiten korrigierte. Die Gewalt, die sie bis zu ihrer letzten Stunde über denselben und über alle ihre Kinder behauptet, floß so ganz mit ihrer Mutterliebe zusammen, daß ihre Verweise keinem derselben auffielen. - Ihre vergnügtesten Stunden waren, wenn sie Briefe von den Höfen von Versailles, Neapel, Parma und von Mailand empfing. Sie schloß sich dann mit einer ihrer innigsten Freundinnen ein und ergoß die Freude, Mutter von so vielen glücklichen Kindern zu sein, in ihren Busen.
Der Prinz-Statthalter von Mailand und der Herzog von Sachsen-Teschen, den der Kaiser seinen teuersten Schwager zu nennen pflegt, werden den Verlust einer liebevollen Mutter vorzüglich empfinden. Die Ökonomie des Kaisers, die er auch gegen sich selbst bis zur Strenge treibt, werden sie in manchen Nebenzuflüssen fühlen. Die zwo noch ledigen Schwestern des Kaisers können sich auf alle Art leicht einschränken, und sie sind sowohl in ihrem väterlichen als mütterlichen Testament hinlänglich bedacht worden, und was die übrigen Kinder dieser unvergleichlichen Mutter betrifft, so sind sie alle unabhängig von ihrem hohen Bruder und gut genug versorgt. Wenigstens wird es unserer lieben Königin am Notdürftigen nicht fehlen, und wenn sie auch gleich nicht die strengste Ökonomin ist, so ist ihre Erziehung doch zu gut, als daß sie es zu großen Ausschweifungen kommen lassen könnte und in Gefahr stünde, einen Franzosen je über sie murren zu hören. Welcher Franzmann, der sich der Zeiten der Dubarry 54 erinnert, wird den im Vergleich mit der ausgelassenen Mätresse so unbedeutenden Aufwand einer guten Königin beklagen und nicht die Asche einer Mutter segnen, die seinem durch die Verschwendung einer Beischläferin so zerrütteten Vaterlande eine weise und tugendhafte Königin geschenkt hat.
Seitdem das Gerüchte vom Tod der Kaiserin die Stadt erfüllt hat, bemerkt man auf den Gesichtern und in den Gebärden der Geistlichen und Hofbedienten Ahndungen von einer großen Revolution. Die Prälaten, die sonst die Bäuche auf den Straßen mächtig vorpreßten, schleichen seit einigen Tagen ganz gebeugt an den Wänden hin, und die Hofbedienten scheinen immer in die Rechnungen ihrer Schulden vertieft zu sein. Sie tragen alle die Hände in den Hosensäcken und scheinen eine Apostrophe 55 an ihre Börsen in ihren Bart zu murmeln. Doch ehe ich dich mit dem unterhalte, was vermutlich geschehen kann, will ich dich mit dem Zustand der österreichischen Lande, so wie sie die große Theresia verläßt, bekannt machen.
Das Haus Habsburg-Lothringen gehört nun unter die vier ersten europäischen Mächte und hat in der Größe keine Nebenbuhler als Rußland, Frankreich und Großbritannien. Zu Anfang dieses Jahrhunderts bis unter die Regierung der verstorbenen Kaiserin gehörte Österreich in die Klasse der mittlern europäischen Mächte, und Englands ganze Macht und das Geld der Holländer mußten es unterstützen, wenn es eine bedeutende Rolle spielen wollte. Selbst zu der Zeit, wo die Sonne nie in seinen Grenzen unterging, war es so fürchterlich nicht als itzt. Der Verlust so vieler Reiche und Provinzen lehrte es endlich, daß die Stärke eines Staates nicht auf der Masse der innern Kräfte, sondern auf dem Gebrauch derselben beruhe. Ein großer Mann, der ihm zu einer Zeit diente, wo es noch das Elsaß, Neapel, Sizilien und verschiedene andre Länder besaß, verglich es einer umgestürzten Pyramide, die auf ihrer Spitze steht und durch das Gewicht des schweren Teils wankt. Die Pyramide ist nun etwas leichter geworden, aber sie steht der Natur gemäß auf ihrem Boden, fest und unerschütterlich.
Die Größe der gesamten österreichischen Erblande, wenn sie rund beisammen lägen, würde etwas mehr betragen als die Größe Frankreichs. Ungarn nebst Siebenbürgen, Kroatien, Slawonien, Temesvär und dem Stück von Dalmatien macht 4.760 geographische Quadratmeilen aus. Böhmen beträgt 900, Mähren samt dem Stück von Schlesien 430, die österreichischen Kreislande, wozu das eigentliche Herzogtum Österreich, Steiermark, Kärnten, Krain, Tirol und die Ländereien des Hauses in Schwaben gehören, betragen nebst der Grafschaft Falkenstein, dem neueroberten Stück von Bayern und ein Teil von Friaul ohngefähr 2.200, die Niederlande 500, die Besitzungen in der Lombardei 200 und die Königreiche Galizien und Lodomerien samt der von den Türken abgetretenen Bukowina ohngefähr 1.400 geographische Quadratmeilen, welches zusammen 10.360 Quadratmeilen beträgt, da Frankreich kaum die runde Zahl von 10.000 solcher Meilen ausmacht. Doch der Unterschied ist noch so groß nicht, wird aber durch die zu erwartende Vereinigung von Toskana und den modenesischen Staaten mit den übrigen Erblanden bald sehr merklich werden. Die Natur war diesen Ländern noch günstiger als unserm Vaterlande, ob sie schon so viel für dasselbe getan hat. Frankreich hat kein Produkt, welches die österreichischen Staaten nicht in ebender Menge liefern oder doch bei gehörigem Anbau liefern könnten, Wein, Öl und Seide nicht ausgenommen. Einige der ersten Bedürfnisse, Getreide und Vieh, können sie in einem solchen Überfluß liefern, daß sie nebst ihren eigenen Einwohnern noch wenigstens die Hälfte jener von Frankreich damit versorgen könnten. Der Schatz von Metallen in den Bergen, welche Ungarn umgeben und Tirol, Kärnten, Krain und Steiermark anfüllen, wird im Vergleich mit dem reinen Gewinn der Könige beinahe ebenso beträchtlich sein als jener in dem Gebirge des spanischen oder portugiesischen Amerika. Hätten diese Länder eine ebenso große Seeküste, um ihren Überfluß in die weite Welt verführen und ihren natürlichen Reichtum besser geltend machen zu können, sie würden wenigstens um den vierten Teil mehr Wert haben als Frankreich. Aber die glückliche Lage unsers Vaterlandes, das Gewässer, welches dasselbe auf verschiedenen Seiten beherrscht, und die schiffbaren Flüsse, welche den Absatz unserer Produkte aus der Tiefe des Reichs nach allen Seiten erleichtern, geben ihm in Rücksicht auf den verhältnismäßigen Wert ein entscheidendes Übergewicht über die österreichischen Staaten.
Ungarn ist ohne Vergleich der wichtigste Teil des österreichischen Erbreichs. Er besitzt nicht nur alles, was die andern Provinzen hervorbringen, sondern muß auch noch einige derselben mit seinem Überfluß ernähren, und seine Produkte übertreffen jene der übrigen Staaten ebensosehr an Güte als in der Menge.
Hier fällt es einem stark auf, daß der Mensch immer desto weniger tut, je mehr die Natur für ihn getan hat. Bloß der Kampf mit Schwierigkeiten entwickelt seine Kräfte, und nur die äußerste Not kann ihn seiner natürlichen Trägheit entreißen. Der Bergschweizer trotzt den nackten Felsen seinen Unterhalt ab und hat unwirtbare Wildnisse in ergiebige und bewohnte Ländereien umgeschaffen. Der Holländer hat den verschlämmten Sand des Rheines und der Maas, den ihm die See beständig streitig macht, in einen Garten verwandelt, indessen der beste Boden in Ungarn wüste liegt.
In Wien glaubt man, die geringe Bevölkerung wäre die Ursache, daß Ungarn eine so ungeheure Menge Getreide und Vieh ausführen könnte; allein wenn es auch dreimal so stark bevölkert wäre, so könnte es doch gewiß diese Bedürfnisse in noch größerer Menge ausführen, wenn der Ackerbau auf den Grad von Vollkommenheit gebracht würde, worauf er in dem größten Teil von Schwaben ist. Es liegt nicht nur ein guter Teil dieses ergiebigen Landes ungebaut, sondern auch der, welchen man bebauet, wird bei weitem nicht so benutzt, als er benutzt werden könnte. Hier weiß man noch nichts von dem künstlichen Wiesenbau, von einer vorteilhaften Art zu düngen, von Mischung der Erdarten, vom Gebrauch des Mergels, den verschiedene Gegenden, und zwar von sehr guter Art, im Überfluß haben. Es bleibt wenigstens um die Hälfte mehr Land brachliegen, als nötig wäre. Die gewöhnlichste Art, das Getreide auszudreschen, ist, daß man die Ochsen drauf herum treibt, wobei ein guter Teil davon im Stroh zurückgelassen wird. Wenn man die Straßen dieses herrlichen Landes überblickt, so glaubt man durch eine Steppe zu reisen, ob man schon einen Boden betritt, der das Korn fünfzig-, sechzig-, ja, wie mich einige versicherten, oft hundertfältig ohne mühsame Bearbeitung zurückgibt. Die Straßen nehmen hie und da einen unübersehbaren Strich Landes in die Breite ein, weil der flache Boden einen so geringen Wert hat, daß man ihn dem Eigensinn der Fuhrleute ohne die geringste Einschränkung preisgibt, die sich dieser Freiheit mit einem unbeschreiblichen Mutwillen bedienen und beim geringsten Regen, oder wenn ein altes Gleis nur im mindesten beschwerlich ist, durch das angrenzende Feld jagen.
Die Einwohner entschuldigen ihre schlechte Wirtschaft damit, daß das Getreide keinen Wert habe und sie es bei einer reichen Ernte nicht abzusetzen wüßten. Die Entschuldigung hat einiges Gewicht, aber verschiedene Fehler der Verfassung und Verwaltung sind die Grundursache des schlechten Zustandes der Wirtschaft. Mit der Bevölkerung würde der Wert des Getreides steigen, und wenn der Landmann mehr Ermunterung zur Arbeit hätte, so könnte ein großer Teil dieses so unerschöpflichen Bodens zu andern Erzeugnissen als Getreide benutzt werden. Man gewinnt zwar schon eine beträchtliche Menge Tobak, Safran und verschiedene Gattungen der edlern Früchte, allein die Arten der Produkte, welche das Land nebst diesen noch liefern könnte, sind unzählig, und,was du kaum glauben wirst,die Regierung sucht die Erzeugung der Produkte, wodurch das Land am meisten gewinnen könnte, eher zu hemmen als zu befördern.
Die Ausfuhr der vortrefflichen ungarischen Weine, die eines der Hauptprodukte dieses Landes sind und deren erleichterte Ausfuhr unsern Weinhandel nach Norden fast gänzlich zugrunde richten könnte, ist mit ungeheuren Auflagen erschwert. Die Regierung will dieses unerklärbare Betragen dadurch erklären, daß, wenn die Ausfuhr der ungarischen Weine frei wäre, der österreichische Weinbau zugrunde gehen müßte. Ich weiß nicht, ob das Gesetz noch gilt, aber wenigstens galt es eine Zeitlang, daß ohne besondere Erlaubnis kein ungarischer Wein durch Österreich verführt werden dürfe, wenn nicht ebensoviel österreichischer Wein zugleich mit verführt würde. Nun mag es dem österreichischen Adel freilich sehr unangenehm sein, wenn er seinen Wein wegen der überlegenen Menge und Güte des ungarischen nicht absetzen kann und seine Ländereien an Wert verlieren müssen. Ohne Zweifel hat dieser Adel auch den meisten Teil an der grausamen Einschränkung der Weinausfuhr aus Ungarn; allein wenn man die Erblande des kaiserlichen Hauses als einen zusammenhangenden Körper betrachtet, so heißt das den Kopf einem Finger oder einer Zehe aufopfern. Österreich kann nie einen Tokaier, St. Görger, Ruster, Ödenbürger, Ofner, Schumlauer oder Ratzersdorfer 56 liefern, die sich von selbst den Fremden empfehlen, da man hingegen durch diese unpolitische Verteurung des ungarischen Weines den benachbarten Ausländern den sauern Österreicher aufzudringen sucht. Dem weiten ungarischen Reiche entzieht man dadurch einen großen Teil seiner besten Nahrungssäfte, um einer Provinz, die kaum den achten Teil von der Größe desselben beträgt, nicht den nötigen Unterhalt, sondern Überfluß zu verschaffen; denn sie hat durch die Residenz des Hofes schon überwiegende Vorteile vor den andern Provinzen, und die weinreichen Gegenden von Österreich wären zu jeder andern Art von Bebauung geschickt. Die russischen Kommis 57 , die sich immer zu Preßburg, Ofen, Tokai und an andern Orten aufhalten, werden nie Bestellungen auf österreichische Weine machen, und wir Franzosen sind der österreichischen Regierung unendlichen Dank schuldig, daß sie unsern Weinen durch die schweren Auflagen auf die ungarischen den Abgang in Norden zu erhalten sucht; denn was von den Russen, Polen und anderen mehr in Ungarn gekauft wird, ist meistenteils nur für die Höfe und den höhern Adel, da wir hingegen mit ungleich mehr Gewinn den großen Haufen in Norden bedienen.
Der Verlust des Geldes, welches Ungarn durch eine leichtere Ausfuhr seiner Weine ziehen könnte, ist nicht der größte Schaden, den es durch diese unnatürliche Einschränkung leidet. Das Übel wird dadurch schrecklich, daß die innere Konsumtion des Weines durch diesen unbegreiflichen Zwang befördert wird. Der Bauer, welcher durch das unmenschliche Lehnrecht vom Adel unterdrückt wird, sucht seine Not, den Kummer seiner ganzen Familie, seine Verzweiflung im Weine zu ersäufen, den er zum Teil selbst zieht oder doch in meisten Gegenden um zwei, drei bis vier Kreuzer die Maß haben kann. Der Mangel an Erziehung und die Verwilderung seiner Sitten machen ihn ohnehin schon zu sehr zum Saufen geneigt. Ich sah Gegenden, die mir das lebendigste Bild von berauschten amerikanischen Horden darstellten, und es fehlte hier den hiesigen Wilden nichts, um sie zu vollkommenen Illinois zu machen, als Haarbüschel von erschlagenen Feinden und Hirnschädel zum Trinken. Die Trunkenheit schwächt die Seelenkräfte des Bauern ebensosehr als seine Leibeskräfte. Sie macht ihn dumm, träg und schwindsüchtig. Die zu heftige Treibkraft der Natur in den heißen Gegenden dieses Landes macht die Menschen ohnehin bald verblühen. Der unmäßige Gebrauch des starken und an manchen Orten sehr kalchichten Weins hilft vollends ihre Säfte austrocknen, und die meisten Bauern dieser Gegenden sind in dem Alter von fünfzig Jahren ausgezehrt und fangen schon in den Dreißigen zu welken an, so kraftvoll und blühend auch die Jünglinge sind. Die Fruchtbarkeit der Ehen wird dadurch vermindert, und die Bevölkerung würde, anstatt sich von selbst nach und nach zu mehren, abnehmen müssen, wenn sie nicht von außen einigen Zufluß bekäme. - Auch die ungeheuern Auflagen auf den ungarischen Tobak, welcher in die andern Erblande des Hauses Österreich eingeführt wird, ist dem Anbau dieses Landes entgegen. Die Pachter des Tobakhandels in den Reichserbländern sollten wenigstens angehalten werden, mit einer gewissen Menge fremden Tobaks ebensoviel oder noch mehr ungarischen abzusetzen.
Es ist wohl kein Land in der Welt, das von verschiedenern und mannigfaltigern Menschenarten bewohnt wird als Ungarn. Die alten Einwohner des Landes, welche eigentlich die Nation ausmachen, teilen sich in Tataren und Slawen. Zu jenen gehören die eigentlichen Ungarn, die Kumaner, Szekler und Jazyger. Ihre Sitten und ihre Bildung verraten noch merklich genug, daß sie mit den heutigen Kalmucken verwandt und Abkömmlinge der alten Skythen sind. Ihre tiefen Augen, ihre eckichten Gesichtsknochen und ihre gelblichte Farbe unterscheidet sie auffallend von den Slawen, die überhaupt einen stärkern und rundern Knochenbau haben und weißer und fleischichter sind. Es gibt verschiedene Bezirke, wo sich beide Menschengattungen ziemlich unvermischt erhalten haben. Die Slawen bestehn aus Kroaten, Böhmen, die ursprünglich ein Nebenast der Kroaten sind, Serbiern, die man Raizen nennt, Russen, Wenden, Polaken. Die deutschen Kolonisten werden auch als Eingeborne betrachtet, doch müssen sie sich, wenn sie freie Güter besitzen wollen, den Adel um 2.000 Kremnitzer Dukaten erkaufen, die ohngefähr 22.000 Livres ausmachen. Als Beisässen betrachtet man die Walachen, Bulgarn, Türken, Griechen, Armenier, Juden und Zigeuner, welche im Lande Ziganer genannt werden und unter diesen angesessenen Fremden die zahlreichsten sind.
Alle diese Völker, einen Teil der deutschen Kolonisten ausgenommen, sind noch Barbaren. Der große Adel, der sich nach dem Hof zu Wien gesittet hat, ist zu gering an Zahl, als daß er eine Ausnahme machen könnte. Die Regierung, die für die Kultur ihrer deutschen Lande so viel tut, hat fast noch gar nichts getan, um diesen ansehnlichen Teil ihrer Untertanen aus der Barbarei zu reißen. Im Gegenteil hat sie, ohne es zu wissen, an dem Charakter und den Sitten dieser Wilden viel verdorben.
Als der Hof zu Wien noch nicht soviel unmittelbaren Einfluß auf sie hatte, waren sie kriegerisch und wie alle Kinder der Natur, denen eine mißverstandene Politik keine falsche Richtung gegeben hat, offenherzig, gastfrei, vertraulich und zuverlässig in ihrem Versprechen. Ich kenne einen alten Offizier, der seine Jugend mit Vergnügen unter den Kroaten zugebracht hat, der mich aber versichert, daß sie seit sechzig Jahren ganz unerkenntlich geworden und aus einem beherzten, treuen, muntern und freimütigen Soldatenvolk in eine tückische, betrügerische und feige Räuberbande ausgeartet seien. "Viel lieber", sagte er, "hatte ich mit ihnen zu tun, als sie noch ganz ohne Zucht und ihren eigenen Gesetzen und Gewohnheiten überlassen waren. Es ist wahr, sie plünderten gern bei Freund und Feind, und wenn wir ins Feld zogen, so waren die Würste auf den Bänken der Metzger in einer Stadt so wenig sicher vor ihnen als die Mädchen und Weiber in den Häusern, wo sie einquartiert wurden; allein das war bloß die Wirkung der Stärke des natürlichen, sinnlichen Appetites, und dabei waren unsere Magazine und unsere Kriegskasse so schlecht bestellt, daß auch die Offiziers der regulierten Truppen oft durch die Finger sehen mußten, wenn ihre Leute nicht reine Hände hielten. Bei allem dem waren unsere Kroaten brauchbare Kerle. Sie hielten auf den gefährlichsten Vorposten stand, wenn sie auch schon fast von feindlichen Truppen umringt waren. Von Ausreißen wußten sie nichts. Ihr Offizier, wenn er ein wenig Liebe und Nachsicht gegen sie äußerte, konnte sie auf den Wink folgsam machen und in jedem Fall auf ihre Treue und Zuverlässigkeit rechnen. Sie dachten nicht daran, ihre Diebereien zu verhehlen, und wenn man ihnen ihre Beute ließ, so waren sie in einem Feldzug unermüdet und konnten auch im Fall der Not einige Tage lang hungern, ohne stutzig zu werden. Aber jetzt hat sich alles geändert. Durch die sogenannte Zucht hat man dafür gesorgt, daß sie freilich nicht mehr auf offener Straße rauben; allein sie stehlen heimlich, so viel sie können, bestehlen einander selbst, wissen ihre Diebstähle zu verhehlen, machen Kabalen gegen ihre Offiziers, desertieren haufenweis, wenn es mit einiger Sicherheit geschehen kann, denn zu einer gefährlichen Desertion sind sie durch den Zwang,den man sie fühlen ließ, zu feig gemacht worden. Sie murren und werden mißmütig, wenn sie nur zwei Tage en corps 58 im Felde stehen sollen, und können ihre Uniform nicht anlegen, ohne darüber zu fluchen. Sie betrachten ihre Vorgesetzten als ihre Feinde und hassen sie. Ehedem war es unerhört, daß ein Kroate zu den Türken übergelaufen wäre, aber heutzutage mischen sie sich, besonders die Likaner, zu zwanzig und dreißig unter die Türken und plündern mit denselben ihr eignes Vaterland. Mit den Slawoniern verhält es sich ebenso, und auch die Ungarn sind zum Teil durch Reglements, die auf ihren Zustand nicht passen, und durch gewisse mißtrauische Anstalten der Regierung eher verdorben als gebessert worden."
Der Mann spricht aus augenscheinlicher Erfahrung; aber wenn man auch bloß dem allgemeinen Gang der Natur nachdenkt, so kann man sich leicht überzeugen, daß ein wildes Volk durch bloße Polizeiverordnungen nicht gebessert werden kann. Es muß erst vorbereitet werden, um den Sinn dieser Verordnungen in etwas fassen und einsehen zu können, daß sie mit seinem Interesse genau verbunden sind. Seine Einbildungskraft muß erst durch Vernunftschlüsse bezähmt und der Starrsinn, womit es seinen alten Gebräuchen und Sitten anhängt, durch deutliche Begriffe gebrochen werden. Bloß durch blinden Gehorsam, wenn das Volk nicht einsehen kann, daß er sein Interesse befördert, macht man es zu tückischen, mürrischen und widerspenstigen Sklaven, die ihre Regenten als ihre Feinde betrachten und sich durch Trägheit, sinnliche Wollust, Betrug und andre Laster für den Zwang, den sie leiden müssen, schadlos zu halten suchen. Der Wilde, den man ohne die nötige Vorbereitung in den Zustand eines polizierten Volks versetzt, nimmt alle Laster desselben an, ohne sich das Gute dieses polizierten Volkes eigen machen zu können, und indem er die Laster der Wildheit mit jenen des verfeinerten Menschen vereinigt, wird er der abscheulichste und zugleich der unglücklichste Mensch unter der Sonne.
Die Religion ist der einzige Weg, worauf der Wilde stufenweis aus seiner Wildheit in den verfeinerten Zustand des Menschen geführt werden kann, ohne einen bösen Charakter anzunehmen; und die Regierung, welche diesen natürlichen Weg in der Behandlung ihrer Untertanen nicht einschlägt, sondern sie durch bloße Machtsprüche bilden will, verliert nicht nur ihre Mühe, sondern arbeitet schnurstracks gegen ihre eigene Absicht und ihr eigenes Interesse. Der Sklave glaubt, bloß für seinen Herrn zu arbeiten, und tut nicht mehr, als wozu er mit der Peitsche gezwungen wird. Der Untertan, welcher durch Überzeugung geleitet wird, sieht ein, daß sein Bestes mit jenem des Ganzen verknüpft ist; er gehorcht willig und arbeitet mit Eifer und Mut für den Staat, weil er zugleich für sich zu arbeiten glaubt. Bei dem Wilden vertritt die Religion die Stelle der Überzeugung, so wie auch bei dem großen Haufen in den meisten polizierten Staaten, der fast nie die Verbindung seines Wohls mit jenem des Ganzen deutlich einsehen lernt und die Religion zur bürgerlichen Tugend und Tätigkeit nötig hat. In meinem nächsten Brief werd ich dir sagen, wieweit man die Regierung in Ungarn nach diesem natürlichen und einfachen Grundsatz bisher befolgt. Du weißt, man ist öfters gewohnt, gewisse Grundsätze eben deswegen zu übergehen, weil sie zu einfach sind und uns sozusagen zu nahe vor der Nase liegen. Leb wohl.
Rousseaus gesellschaftlicher Vertrag 59 enthält ohne Zweifel viel Schwärmerei. Das Schicksal, welches mit uns sein ewiges Spiel treibt, wirft uns in irgendeine gesellschaftliche Lage, die uns ankettet, ehe wir an einen Vertrag denken können. Der blinde Zufall und die eiserne Not sind die Gesetzgeber, welche alle die Demokratien, Aristokratien, Monarchien und Despotien und das unendliche Gemengsel dieser verschiedenen Verfassungen geschaffen haben. Ohne Zweifel befinden wir uns auch, überhaupt genommen, besser unter der Leitung des launichten Glücks, als wenn wir uns in unsern verschiedenen Verhältnissen durch förmliche Verträge miteinander verbinden und gegeneinander verwahren wollten. Die Faust des Stärkern bliebe doch immer die natürlichste Erklärung unserer Verträge, und unsere Bedingungen mögen noch so deutlich sein, so findet der Stärkere doch eine Erklärung nötig, sobald er seine Überlegenheit fühlt und sein Interesse mit jenem der andern in eine Kollision kömmt.
Indessen ist es doch wahr, daß in den verschiedenen bürgerlichen Verkettungen, worin wir uns nun einmal befinden, das Wohl des Ganzen sich nicht deutlicher denken läßt, als wenn man zwischen den Gliedern der Gesellschaft einen Vertrag voraussetzt, worin der vernünftige Willen aller oder der meisten Glieder zur Richtschnur der Gesetzgebung und gesellschaftlichen Verwaltung angenommen wird. Kein Sultan hat etwas von dieser Vorstellung zu beförchten, und wenn sie sich auch allen seinen Untertanen, von seinem Wesir an bis auf seine Sklaven, mitteilen sollte. Der Souverän, er mag nur einen oder hundert Köpfe haben, kann sein eignes Interesse nicht besser beobachten, als wenn er seinen Regentenwillen als das Resultat des vernünftigen Willens aller oder des größten Teils seiner Untertanen betrachtet. Eine reelle Kollision zwischen dem Interesse des Regenten und seiner Untertanen überhaupt läßt sich nicht denken. Sie ist allezeit nur eine Täuschung verworrener Begriffe. Die ganze Geschichte ist voll dieser Wahrheit, deren deutliche Erkenntnis auf seiten des Regenten die Untertanen gegen alle wirkliche Tyrannei sichersetzt, wenn der Beherrscher auch als Privatmann noch grausam sein sollte. Ebenso kann sich der Regent gegen Meuterei, Verrat und Aufruhr nicht besser sichern, als wenn er seine Untertanen überzeugt, daß ihr Interesse überhaupt die Richtschnur seiner Gesetzgebung und Verwaltung ist und es sein muß, wenn er sich selbst nicht schaden will. Das Interesse ist das heiligste Band der Menschen, und bloß von der deutlichen Erkenntnis desselben hängt ihr Glück ab. Die Bosheit hatte immer unendlich weniger teil an dem Unglück der Völker, die in der Weltgeschichte auftreten, als der Irrtum der Regenten und die Verkennung ihres eigenen Interesse. Und was hat nun auch der uneingeschränkteste Beherrscher zu beförchten, wenn er öffentlich und feierlich mit seinen Untertanen den Vertrag eingeht, nichts tun zu wollen, als was in ihrem sämtlichen vernünftigen Willen eingeschlossen ist oder, welches das nämliche ist, was ihr Interesse erfodert? Die Natur hat diesen Vertrag schon errichtet, noch ehe eine Monarchie war. Er ist der Grund der Ruhe und des Glückes jeder einzeln Familie, jeder auch noch so kleinen Gesellschaft, und auch das Recht des Stärkern widerspricht ihm nicht, wenn er selbst seine überlegene Stärke, sein natürliches Recht nicht zu seinem eignen Nachteil verwenden ,will. - Es ist wahr, der große Haufen verkennt gemeiniglich sein eignes gemeinschaftliches Interesse; allein die Geschichte hat kein Beispiel, daß ein Regent, der sich mit Tätigkeit und Klugheit am Besten seiner Untertanen verwendet, durch Schuld des größten Teils derselben unglücklich geworden wäre. Die Natur ist Bürge dafür, daß die, welche ihre Gesetze befolgen, ihren Zweck erreichen und glücklich sein werden. - O ihr, denen die Bildung künftiger Regenten anvertraut ist, wie leicht wäre es euch, eure Mitbürger überhaupt gegen Tyrannei und Bedrückungen sicherzustellen! Wir fodern keine Trajane, keine Antonine, keine Heinriche von euch. Die Natur muß für Fürsten von der Art mehr getan haben, als ihr tun könnt. Aber eure Schuld ist es, wenn ihr uns Tyrannen gebt, die um so gefährlicher sind, wenn sie selbst nicht wissen, daß sie Tyrannen sind. Könnt ihr nicht über die Leidenschaften eurer Zöglinge Meister werden, so könnt ihr ihnen doch deutliche Begriffe von ihrem eignen Interesse beibringen, und mehr braucht der Staat zu seiner Sicherheit nicht. Zeigt ihnen im Detail, wie unzertrennlich ihr Glück von jenem des Staates ist, wie z. B. eine unbezähmte Ruhmbegierde, die sie auf Kosten ihrer Völker zu großen lärmenden Unternehmungen hinreißt, sie ihren Zweck verfehlend macht und bei der vernünftigen Nachwelt als Verheerer brandmarkt!
Der Aberglauben und besonders die Wollust der Fürsten haben die Politik erzeugt, deren Grundsätze Machiavell gesammelt, aber nicht gutgeheißen hat. Schon die Auguste und Neronen hatten Gebrauch davon gemacht, aber erst in dem neuern Italien ward sie als einzige wahre Regierungskunst angenommen. Die Päpste, deren Gewalt auf dem Wahn des Volkes beruhte, die Ohnmacht der vielen kleinen Staaten, worin dieses Reich zerstückt war, ihre Zerrereien unter sich selbst, der beständige Kampf mit überlegnen auswärtigen Feinden, das Genie der Nation und dann vorzüglich die Wollust und Verschwendung der Fürsten brachten diese unnatürliche Staatskunst in Aufnahme, die zwischen dem Interesse des Regenten und seiner Untertanen einen wesentlichen Unterschied macht, die letztere als Feinde der erstern behandelt, ihre Gewalt bloß auf List baut, alle Aufklärung und alle graden Wege verabscheut, sich in die finstern Kabinette verschließt und das Volk durch unverständliche Machtsprüche beherrscht.
Mit andern Künsten und Wissenschaften breitete sich auch diese menschenfeindliche Kunst aus Italien weiter über Europa aus. Die Minister verschiedener europäischen Höfe, die sich nach den italienischen Mustern gebildet hatten, glaubten desto besser zu regieren, je feinere, listigere und verwickeltere Maßregeln sie ergriffen. Ludwig der Elfte, Richelieu und Mazarin 60 waren die größten Meister in dieser Kunst. Damals - die glücklichen Zeiten von Heinrich dem Vierten ausgenommen - hätte man es an unserm Hofe für eine Torheit gehalten, wenn man das Volk durch Aufklärung, Überzeugung, Liebe und Freimütigkeit hätte beherrschen wollen, zwischen den Untertanen und dem Regenten gewisse Verbindlichkeiten angenommen und das Interesse derselben als eins betrachtet hätte.
Die Pfaffen, besonders die Jesuiten, deren innere Ordensverfassung und Regierung mit den Grundsätzen dieser sogenannten feinen Politik vollkommen übereinstimmten, trugen das meiste dazu bei, sie an den Höfen geltend zu machen. Man behandelte diese Grundsätze als heilige Geheimnisse, die, wie der Stein der Weisen, ihre Besitzer zu Halbgöttern machten. Geblendet von den Trugschlüssen dieser politischen Goldmacherei, entfernte man sich in der Regierung der Staaten von dem einfachen und geraden Gang der Natur, der allein zur Glückseligkeit führt, der in der Verwaltung jeder häuslichen Familie ebenso kenntlich ist als in der Beherrschung des größten Staates und wornach jeder Regent sich als ein guter Hausvater betragen muß, der kein andres Glück kennt, als woran alle seine Kinder, Knechte und Mägde teilnehmen.
Durch die Jesuiten und einige italienische Parvenus schlich sich der sogenannte Machiavellismus auch an den hiesigen Hof ein. Ich weiß nicht, hat man es dem Nationalhumor 61 oder einer andern Ursache zu verdanken, daß er hier die greulichen Auftritte nicht veranlaßt hat, die zu einer gewissen Zeit die Höfe in Italien, Frankreich, Spanien und auch in England zu Mördergruben machten, wo der abscheulichste Mißbrauch der Religion, Freundschaft und Liebe unter dem Vorwand des Besten des Staats geheiligt ward und Verräterei der innigsten Freunde, Bruder- und Vatermord das Spiel der Kabinette waren.
Sowenig sich der hiesige Hof mit Verräterei und dem Blut der königlichen Familie oder vorgeblich furchtbarer Untertanen besudelt hat, so hat doch seine Staatsverwaltung, wenigstens in Rücksicht auf Ungarn, noch einen kleinen Zug von List und studierter Unterdrückung. Mißverstandne Religionsgrundsätze trugen ohne Zweifel das meiste dazu bei, daß ihn die Fürstin von dem besten Herzen, die Menschenfreundin Theresia, nicht ganz abstreifen konnte. Es ist für ihren liebenswürdigen Sohn aufbehalten, den keine Sophisterei der Pfaffen und Höflinge täuscht und der Mut genug hat, seine Philosophie in Ausübung zu bringen.
Beim ersten Anblick sollte man glauben, die Verfassung dieses Königreichs erfodre eine gewisse listige Behandlung. Das Interesse des hohen Adels liegt mit jenem des ganzen Staats im Streit. Die Untertanen desselben, welche den ungleich größern Teil der Einwohner ausmachen, sind zwar keine wahren Leibeignen, aber auch keine Eigentümer, sondern nur Pächter, die von ihren Lehnherrn unter dem geringsten Vorwand von den Gütern vertrieben werden können. Der Adel trägt nichts zu den Staatsbedürfnissen bei als freiwillige Geschenke, ob er schon die Hälfte von dem ganzen Ertrag des Landes zieht. Er ist fast der einzige Stand des Reiches; denn die Häupter der Geistlichkeit, welche einen fast uneingeschränkten Einfluß auf die Mitglieder ihres Standes haben, werden aus dem Mittel des Adels genommen, und das Interesse dieser beiden Stände ist im Grunde eins. Die Städte sind zu gering an Zahl und zu unbedeutend an sich selbst, als daß sie einer Klasse der übrigen Stände das Gleichgewicht halten oder einen besondern wichtigen Körper bilden könnten. Kurz, die sogenannte ungarische Freiheit ist bloß ein Vorrecht des Adels und der mit ihr verwandten Geistlichkeit, welches beide Klassen auf Kosten des Ganzen bisher zu erhalten gewußt haben.
Der Hof bot bisher allen Künsteleien auf, um dem Adel das sehr nachteilige Übergewicht zu nehmen. Der Kampf zwischen dem Souverän und dem Adel, welcher eigentlich den Mittler zwischen dem Volk und der Souveränität vorstellen sollte, aber hier ausschließlich die eigentliche Nation ausmacht, indem man den ungleich größern Teil des Volkes nur als Sklaven ansehen kann, brach schon in verschiedene Aufruhre aus, wodurch sich die Thököly und Räkoczi bekannt gemacht haben. Die Hinrichtung der Grafen Zrinyi, Nädasdy, Frangipani und Tertenbach 62 führen einige als ein Beispiel an, daß sich auch der hiesige Hof sultanische Expeditionen erlaubt habe, um sich reiche, angesehene, unternehmende und gefährliche Untertanen vom Hals zu schaffen. Allein ich glaube, sonstiges Betragen sollte ihn gegen diesen Vorwurf sichersetzen, und aus allen Umständen der Geschichte ergibt sich, daß diese Hingerichteten wirkliche Verbrecher waren. Der Plan zum Sturz des übermäßigen Adels, welchen der Hof seit langer Zeit befolgt, ist auch viel zweckmäßiger als diese angedichtete Grausamkeit, die nur dazu dienen würde, die Gemüter mehr aufzubringen und wilder und entschlossener zu machen. Man wußte nur zu wohl, welche Macht der Luxus und die Wollust über das menschliche Gemüt haben. Man lockte den stolzen Ungarn, der auf seinem Landsitz Freiheitsentwürfe brütete, an den Hof oder in die Stadt. Man gab ihm durch Ehrenstellen, Titel, Heiratsvorschläge und andere Gelegenheiten Anlaß, sein Geld auf eine glänzende Art zu vertun, Schulden zu machen und bei der Sequestration 63 seiner Güter sich endlich auf Gnade oder Ungnade zu ergeben. Der verführte Ungar hielt es für eine Ehre, mit einem von den großen deutschen Häusern, die überhaupt bei Hofe in viel größerm Ansehn stehn und ungleich mehr Einfluß auf die Regierung der ganzen Monarchie haben als die ungarschen, verwandt zu sein. Er holte sich seine Frau aus Wien und legte sich durch diese Verwandtschaft Fesseln an. Seine Gemahlin führte in seinem Haus den hohen Ton und die feine Lebensart ein und beschleunigte auf alle mögliche Art die Sequestration seiner Güter. Der ganze hohe ungarische Adel ist mit dem deutschen zu Wien verwandt, und diese Verwandtschaft trug das meiste dazu bei, die sogenannten schönen Sitten unter demselben gängig zu machen, die ihn entnervten und dem Hofe untertänig machten. Fast kein großes Haus ist mehr schuldenfrei, und nach dem Beispiel des Wiener Adels hält nun der Ungar seine Schulden für eine Ehre. Der Hof, welcher auf diese Art den mächtigsten Teil des ungarischen Adels zu Verschwendern, Wollüstlingen und Memmen umschuf, hat nun keinen Aufruhr mehr zu beförchten. Der mißvergnügte Pöbel fände nun keinen Anführer mehr, der Ansehn und Macht genug hätte, um seine Rotte förchterlich zu machen. - Die Verschwendung, wozu man dem Ungarn Anlaß gab, zog eine andre Kette nach sich, die ihn noch fester an den Hof band. Nun war es nicht mehr die Ehre allein, die ihn um eine Bedienung werbend machte. Auch die Besoldung hatte nun Reiz genug für ihn, etwas von seiner Freiheit aufzuopfern, um seine so stark vermehrten Bedürfnisse bestreiten zu können. - Ein andrer Kunstgriff, den Nationalgeist des ungarischen Adels zu schwächen und ihn geschmeidiger zu machen, war, daß man die Vorrechte desselben feilbot und den deutschen Familien den Ankauf von Gütern in Ungarn erleichterte oder gar die der Krone heimgefallnen denselben schenkte. Viele deutsche Häuser gehören nun zu der Klasse der reichsten ungarischen Edelleute und verstärken den Einfluß des Hofes. Beide Nationen vermischen sich, ihre Sitten gleichen sich ab; der Ungar wird desto gleichgültiger gegen seine Freiheit, je mehrere davon teilnehmen, und desto gleichgültiger gegen sein Vaterland, je weniger Eigentümliches es behält. - Die Beförderung zu den hohen geistlichen Ehrenstellen ist besonders ein wirksames Mittel, womit der Hof die mächtigern Häuser an sich bindet.
Die Kunstgriffe, die er außerdem noch zu diesem Endzweck anwendet, sind unzählig und hängen oft bloß von Zeit und Umständen ab. Einer der gewalttätigsten ist die Belegung der ungarischen Produkte mit so ungeheuern Abgaben, wovon ich dir schon gesagt habe. Diese Bedrückung trifft freilich unmittelbar nur den Adel, dem die Erzeugnisse des Landes größtenteils zugehören, indem der Bauer kein Eigentum hat. Man glaubt, der ungarische Adel würde zu reich und mächtig werden, wenn er den Ertrag seiner Güter völlig geltend machen könnte; allein mittelbar leidet das ganze Land und besonders der Bürger in den Städten, der Künstler und Fabrikant unsäglich darunter, indem die Masse des zirkulierenden Geldes dadurch verringert wird. Die Auflagen auf die Ausfuhr der ungarischen Weine sind so groß, daß die Bergkroaten ihren Wein in dem venezianischen Dalmatien kaufen, da sie ihn sonst ebenso wohlfeil von ihren eignen Mitbürgern, den benachbarten Ungarn, haben könnten. Man läßt lieber Geld aus dem Lande fließen, als daß man den Ungarn reich werden ließe.
Fast alle Bedienungen des Reiches, die nicht verfassungsmäßig von Eingebornen müssen besetzt werden, übergibt man fremden Deutschen, die oft die abscheulichsten Despoten machen. In den illyrischen Staaten, die unmittelbar vom Hofkriegsrat abhängen und ganz militärisch verwaltet werden, sind fast alle Stellen mit Ausländern besetzt. Die Deutschen haben sich durch ihr tyrannisches Betragen daselbst so verächtlich gemacht, daß der Kroate keinen entehrendern Namen kennt als Schwab. "Er ist ein Schwab" - das drückt bei ihm alles aus, was verächtlich und hassenswürdig ist. Unter der Benennung von Schwaben begreift aber der Kroate, wie der Wiener, alle Deutsche, die keine Österreicher sind. Die gebornen Österreicher, welche in Ungarn angestellt werden, wirtschaften meistens nicht viel besser als die türkischen Paschas oder die mogulischen Nabobs. Aus ihrem angebornen Stolz wollen sie den Ungarn fühlen lassen, daß sie die vorzüglich herrschende Nation sind. Ihre gewöhnliche Verschwendung verleitet sie zu unerlaubten Erpressungen, und sie sind um so mehr geneigt, ihre Untergebnen feindselig zu behandeln, da sie in ihren Sitten, und besonders in ihrer Religion, oft so verschieden von ihnen sind. Durch das Betragen der Fremden, womit die Stellen besetzt werden, nahm der Illyrier das Tückische und Widerspenstige an, das seinem Charakter so unnatürlich ist.
So vortreffliche Männer nun auch an der Spitze der verschiedenen Departements stehen, so verwerflich ist der große Haufen der kaiserlichen Unterbedienten. Überhaupt genommen, hat er kein Fünkchen Vaterlandsliebe, keine Kenntnisse, keinen guten Willen und keine Tätigkeit. Stolz, Eigennutz, Hartherzigkeit und ein gewisses gebieterisches Wesen zeichnen ihn aus. Die Besoldung und der Titel sind für ihn das Wesentliche seiner Stelle, und die Geschäfte behandelt er als eine Nebensache. Glaube nicht, daß ich es übertreibe. Ich versichere dich auf meine Ehre, es ist - im ganzen genommen - dem Buchstaben nach wahr. Die gebornen Ungarn, welche bei der Verwaltung ihres Vaterlandes angestellt sind, haben ungleich mehr gesunden Verstand, mehr guten Willen und Wärme für ihre Geschäfte als die Österreicher. Und doch zieht man die letztern überall vor und gibt ihnen allen Anlaß, ihren dummen Stolz und Übermut gegen die andern auszulassen.
Unser großer Heinrich pflegte zu sagen: Glücklich ist der Edelmann, der seine 5.000 Livres Revenuen hat und mich nicht kennt. Wenn der hiesige Hof den ungarischen Edelleuten irgendeine Art von Glück zugedacht hat, so ist es diese gewiß nicht. Er hielt es für unumgänglich notwendig, sie zu Hofschranzen umzuschaffen und ihnen alles Gefühl von Freiheit und wahrer Ehre zu nehmen. Er tat alles, was möglich war, um ihren Nationalgeist zu unterdrücken. Er schien bisher die Ehre nicht zu kennen, ein freies, gefühlvolles Volk zu beherrschen. Er glaubte die ganze Nation zu Sklaven machen zu müssen, um sie beherrschen zu können.
Die grausamsten Eingriffe gegen den allgemeinen gesellschaftlichen Vertrag und gegen die natürliche Freiheit waren die Religionsbedrückungen, welche die Ungarn seit zweihundert Jahren ausstehen mußten und wodurch sich der hiesige Hof selbst mehr geschadet, als er in den nächsten zweihundert Jahren wiedergutmachen kann. Es ist einer von den traurigen Widersprüchen, welche die Schwäche des menschlichen Verstandes beweisen, daß der hiesige Hof auf einer Seite die Bevölkerung und Industrie in Ungarn zu befördern suchte und auf der andern den fleißigsten Teil seiner Untertanen, dessen Religionsverfassung der Bevölkerung so günstig ist, auf alle Art verfolgte.
Die Katholiken machen ohngefähr den dritten Teil von den Einwohnern der gesamten ungarischen Lande aus, worunter Siebenbürgen und Illyrien mitbegriffen sind. Die Lutheraner und Reformierten zusammen betragen das zweite und die Griechen, Juden, Wiedertäufer und andere das letzte Dritteil. Es wäre zu verzeihen, daß die Katholiken, ihrer geringen Anzahl ungeachtet, die herrschende Kirche ausmachen, weil sich die übrigen kaiserlichen Erblande auch zu dieser Religion bekennen. Aber daß man den Protestanten über dreihundert Kirchen wegnimmt, indessen man den Juden erlaubt, Synagogen zu bauen, daß man sie nötigt, oft zwölf Meilen weit zu einer Predigt zu reisen, während daß viele Kirchen der Katholiken mehr den Mäusen, Ratzen und Nachteulen zur Wohnung als zum Gottesdienst dienen, daß man den Protestanten nicht erlaubt, Schulen anzulegen, und ihnen doch gestattet, ausländische Schulen zu besuchen, daß man das Land lieber von katholischen Kalmucken, Zigeunern als von gesitteten und arbeitsamen Protestanten bewohnt sieht und unterdessen zu Wien unendliche Projekten zur Beförderung der Industrie und Aufklärung unter den Untertanen macht, daß die Regierung und die Unterbedienten gegen die fremden Juden und Türken toleranter und billiger sind als gegen ihre protestantischen Mitbürger, daß man den Adel zu demütigen sucht und daneben auch dem bessern Teil der Bürger in den Städten durch unnatürliche Religionsbedrückungen vorsätzlich alle Vaterlandsliebe nehmen will und er sich in seiner Heimat als einen Fremden muß behandeln lassen - alles das beweist, daß die Regierung mit der guten Sache und mit ihrem eignen Interesse im Streit liegt und mit einer Hand immer wieder niederreißt, was sie mit der andern baut.
Man hat sich also nicht zu wundern, daß der hiesige Hof mit seinen unzähligen Anstalten seit dem Anfang dieses Jahrhunderts nichts Erhebliches an dem Zustand von Ungarn gebessert hat. Seine Vorkehrungen hatten keine andre Wirkung, als daß der freie und bessere Teil der Einwohner dieses Königreichs erst mürrisch und dann gleichgültig gegen das Vaterland ward, indessen der große Haufen des Volks in seiner alten Knechtschaft blieb. Die Nation verlor ihren Charakter, ohne daß sich ihr gesellschaftlicher und physischer Zustand besserte. Die Regierung verfehlte ihren Endzweck auf dem krummen Weg, den sie einschlug, und wäre demselben in dieser langen Zeit gewiß näher gekommen, wenn sie den geraden und einfachen Gang der Natur befolgt hätte.
In allen Staaten ist die Religion der kürzeste und natürlichste Weg, das Volk über sein Interesse aufzuklären und für seine Pflichten warmzumachen. Sie vertritt bei dem großen Haufen die Stelle eines allgemeinen Vordersatzes, dem sich nützliche und schädliche politische Schlußsätze anhängen lassen, je nachdem der Regent es versteht und sich Mühe gibt, wahre oder falsche Mittelsätze einzuschieben. Die Regierung mag wohl die Religion entbehren können, wenn der Staat einmal auf einen gewissen Grad von Kultur gebracht ist; allein die ersten Schritte aus der Barbarei bis auf diese Stufe muß das Volk am Gängelband der Religion tun. Wir haben nicht nötig, in Ägypten, im Alten Orient oder bei den Griechen und Römern Beispiele zur Bestätigung dieser Wahrheit zu suchen: Wir sehen in der neuern Geschichte, daß bei allen europäischen Völkern die Religion der Grund ihrer Kultur war. Sie waren immer desto glücklicher, je enger die Verbindung zwischen der Religion und dem Staatsinteresse war. Sie wurden stufenweis immer desto bessere Bürger, je mehr sich ihre Religionsbegriffe unter Begünstigung der Regierung vereinfachten; und zu der itzigen Verfassung und dem glücklichen Zustand von England hat die Religion den ersten Grund gelegt.
Die österreichische Regierung handelte in Ungarn nach den schnurstracks entgegengesetzten Grundsätzen. Sie gab sich alle Mühe, die populäre und einfache Religion der Protestanten wieder in die unpolitische Möncherei zu verwandeln und den aufgeklärten Teil ihrer Untertanen aus dem Licht in die Finsternis zurückzuführen. Zu gleicher Zeit, als sie dem Anschein nach mit ihren deutschen Untertanen vorwärtsschreiten wollte, suchte sie ihre protestantischen Ungarn von dem nahen Zweck zurückzustoßen, den sie doch mit jenen schien erreichen zu wollen. Dort schien sie zu erkennen, daß das päpstliche Pfaffen- und Disziplinsystem der Industrie und dem Wohlstand des Volkes ebenso nachteilig sei als der Kasse des Landesfürsten. Sie schränkte die Übermacht der Geistlichkeit ein und machte Schulanstalten, deren Resultat doch über kurz oder lang mit den Grundsätzen der Protestanten übereinstimmen mußte, und hier suchte man die erwachte Industrie samt der Religion zu unterdrücken, die ihre Mutter war. Welcher unerklärliche despotische Eigensinn!
Die ungarischen Protestanten sind zwar in Rücksicht auf Fleiß und Aufklärung noch weit hinter jenen in andern Staaten zurück; allein, ungeachtet sie nur den dritten Teil der Einwohner ausmachen, so tragen sie doch beinahe die Hälfte zu der Landeskasse bei und sind demungeachtet viel wohlhabender als ihre katholischen und griechischen Mitbürger. Ein auffallender Beweis, wie sehr ihre Religion mit dem Wohl des Ganzen übereinstimmt und wie sehr der Hof sein eigenes Interesse verkennt. Am meisten hat sich der Hof durch sein Betragen gegen die Griechen geschadet, die einen so ansehnlichen Teil der Einwohner dieses Reichs ausmachen. Anstatt die Pfaffen dieser Halbwilden, denen sie unbeschreiblich ergeben sind, zu tüchtigen Volkslehrern zu bilden, die durch ihr Ansehen ihre Untergebenen aus der Barbarei führen und zu guten Bürgern umschaffen sollten, begnügte man sich damit, daß man von Zeit zu Zeit einen ehr- oder geldgeizigen Prälaten bestach, der zu der Hofkirche überging. Der Schwarm, den ein solcher geistlicher Komplottmacher mit zur Desertion bewegte, veränderte nichts als den Namen. Aus griechischen Barbaren wurden sie katholische Barbaren, oder, wie sich ein ehrwürdiger kaiserlicher Offizier ausdrückte: man brennte den Schweinen nur ein anders Zeichen auf den H ... rn. Übrigens kümmerte man sich wenig um die Erziehung der katholischen und unierten Geistlichen und noch weniger um jene der nichtunierten, woran doch der Regierung so viel gelegen sein sollte und welche das sicherste Mittel gewesen wäre, den Anbau des Landes zu befördern und den Ertrag desselben zu vermehren.
Die griechischen Pfaffen in Ungarn und Illyrien sind ohngefähr in dem Zustand, worin die katholische Geistlichkeit unter Karl dem Großen in Deutschland war, der auch durch die Religion den ersten Grund zur Kultur der Nation legte und mit Bildung der Geistlichkeit den Anfang machte. Ich zweifle sehr, ob die meisten lesen und schreiben können; wenigstens weiß ich gewiß, daß sie 6 und 7, 8 und 9 oder irgendeine Zahl, die über 3 und 4 hinaufsteigt, nicht ohne Hülfe der Finger zusammenzählen können. Manche wissen noch nichts vom Gebrauch der Sacktücher, sondern haben noch die löbliche Gewohnheit aus dem Naturstand beibehalten, die Nase mit den Fingern zu putzen. Einer dieser Seelenhirten, ein Makedonier von Geburt, der sich mit seiner Kenntnis der griechischen Sprache großmachte und viel vom Alexander, seinem berühmten Landsmann, mit einem lächerlichen Stolz zu erzählen wußte, wollte mir auch, als einem Neuling, von dem Trojanischen Krieg mit aller Vertraulichkeit Nachricht geben. Er erzählte mir, ein trojanischer Prinz habe eine Prinzessin von Frankreich entführt. Da wären der griechische und der römische Kaiser, der König von Frankreich und die sieben Kurfürsten nach Troja gezogen und hätten die Stadt nach einer erstaunlich langen Belagerung mit Hülfe eines hölzernen, mit Soldaten angefüllten Pferdes eingenommen und verbrannt. Der Mann hat die Geschichte offenbar durch Tradition in Saloniki oder einer andern Stadt seines unliterarischen Vaterlandes erhalten und nicht einen alten Griechen noch eine Geschichte gelesen. Demungeachtet wird er von seinen Kollegen für ein Wunder von Gelehrsamkeit gehalten. Bei all der schrecklichen Unwissenheit stehen diese Pfaffen doch bei dem Volk in größerm Ansehen als ehemals die Orakel von Delphi und Delos. Sie benutzen es aber zu nichts anderm, als auf Kosten desselben zu schwelgen. Sie sind wahre privilegierte Volksdiebe, die bloß in den Kniffen und Pfiffen, womit sie den großen Haufen um die Früchte seines Schweißes bringen, einige Funken von Vernunft zeigen und so innig von der Gültigkeit ihres Anspruchs auf die Wolle ihrer Schafe überzeugt sind, daß sie ihnen dieselbe samt der Haut vom Leibe reißen, wenn sie sich nicht gutwillig scheren lassen.
Die katholischen Pfaffen, die etwas entfernt von großen Städten sind, geben den griechischen in der Unsittlichkeit und Unwissenheit wenig nach. Die Wolle ist auch das Vornehmste, worauf sie beim Hüten ihrer Schafe ihr Augenmerk richten. Ihr Brevier ist ihre ganze Bibliothek und die lateinische Sprache ihr einziges Studium. Wie weit es manche darin bringen, kannst du aus Folgendem schließen. Ich sprach mit einem derselben, der in seinem Revier in besonderrn Ansehen steht und sich wirklich auch durch guten Willen und etwas ausgebreitetere Kenntnisse vor vielen andern seines Standes auszeichnet. Die Rede war von den deutschen Kolonisten, die sich in Ungarn niederlassen. Ich fragte ihn, wie man es mit ihnen hielte, wenn sie die Witterung des Landes nicht ertragen könnten. "Damus illis licentiam repatriandi", sagte er. (Man läßt sie wieder in ihre Heimat ziehen.)
Der Barbarismus dieses ungarischen Pfarrers ist mir zu gelegen gekommen, als daß ich diesen ungeheuern Brief schließen könnte, ohne dir von diesen Kolonisten umständlichere Nachricht zu geben. Wenn man bedenkt, daß ein Dritteil der Nordamerikaner aus ausgewanderten Deutschen besteht, daß das Kap, Batavia und Surinam mehr als zur Hälfte von Deutschen bewohnt werden und immer noch Zufluß aus der unerschöpflichen Menschenquelle des deutschen Reiches erhalten, obschon die beiden letztern Plätze als sehr ungesunde Orte allgemein verschrien sind, so kann man sich nicht genug wundern, wie sich diese Auswanderer so vielen Gefahren und Beschwerden aussetzen mögen, um jenseits des Weltmeers ein wüstes Land anzubauen oder als Knechte und Mägde ihr Brot zu verdienen, während daß das nahe Ungarn noch für so viele Millionen Menschen Raum und Brot darbietet. Der Hof sucht sie zwar dahin zu locken; allein die Hälfte von den Eingewanderten macht wieder von dem Barbarismus des Herrn Pfarrers Gebrauch, und man hat häufige Beispiele, daß die Zurückgewanderten sich nach der Neuen Welt haben einschiffen lassen. Der Fehler muß an der Regierung liegen, und ich glaube, es würden wenige zurückwandern, wenn sie nicht größere politische Barbarismos machte, als mein guter Pfarrer im grammatikalischen Verstand gemacht hat. - Ein Hauptfehler der Regierung ist, daß sie durch den Religionszwang den schätzbarern Teil der deutschen Auswanderer, nämlich die Protestanten, von ihren Grenzen abschreckt. Diese haben wenig Reiz, sich in einem Land anzubauen, wo sie oft einige Tagereisen machen müssen, um einen Pfarrer von ihrer Religion zu sehen, wo man ihnen nicht erlaubt, eine Kirche zu bauen, und wenn sie auch zu Tausenden beisammen wohnen, und wo ihnen und ihren Kindern der Religionshaß im Weg steht, im Zivildienst ihr Glück zu machen. Alle diese Hindernisse fallen unter der sanften Regierung der Engländer und Holländer weg, und diese ziehen also den bessern Teil der auswandernden Deutschen nach ihren Kolonien und lassen für Ungarn den schlechtern zurück. Die, welche in dieses Land ziehen, sind das liederlichste Gesindel aus Bayern, Schwaben, Franken und den Rheinländern. Sie versaufen bei ihrer Ankunft das bißchen Geld, welches sie aus ihren verkauften Häusern, Gütern und ihrem Hausgeräte gelöset haben; und da die Regierung nicht Sorge genug für sie trägt, so sterben sie aus Kummer und Krankheiten, die mehr eine Folge von ihrer Liederlichkeit als eine Wirkung des Klima sind. Ein Teil derselben bettelt sich wieder nach Deutschland zurück und braucht die Witterung des Landes zum Vorwand seiner Zurückwanderung, die er zehnmal schädlicher beschreibt, als sie wirklich ist, und wodurch er alle diejenigen in seiner Nachbarschaft, welche noch irgendeinen andern Weg zur Auswanderung für sich offen sehen, von Ungarn abschreckt. Die, welche also Geld genug haben, die Reise nach Amerika zu machen, ziehen dieses Land Ungarn vor, und nur die Ärmsten, die kaum einige Dukaten zur Donaufahrt übrig haben, sehen es als ihren einzigen Zufluchtsort an.
Für ein so menschenarmes Land, als Ungarn ist, wäre dieses Gesindel immer noch Gewinn genug, wenn sich die Regierung mehr um ihr Schicksal interessierte und den Folgen vorzubeugen suchte, welche die Liederlichkeit und der Mangel an Kenntnis des Landes und an der ersten, zum Anbau einer Familie nötigen Unterstützung nach sich ziehen müssen. Man müßte zu Wien oder Preßburg ein besonderes Comptoir für diese Einwanderer errichten, wo sie die nötigen Kundschaften einziehen könnten. Man müßte ihnen die Auskunft geben, an welchen Orten sich schon mehrere aus ihrer Gegend niedergelassen haben; denn einer der größten Reize zum Anbau einer Kolonie ist, daß die Neuankommenden schon Leute finden, mit welchen sie Sitten und Sprache gemein haben oder gar bekannt und verwandt sind. Nun sind aber die Deutschen unter sich selbst so verschieden, daß sie sich außer ihrem Kreise für Fremde halten müssen. Die Bayern müssen in eine gewisse Gegend und die Franken, Schwaben und andere mehr in die ihrigen gewiesen werden. Vor allem müßte man ihnen vorschreiben, wie sie sich bei der Witterung des Landes zu betragen haben. Das Klima von Ungarn ist an sich sowenig ungesund als das von Italien, Spanien, Südfrankreich oder einem andern warmen Lande. Nur die Moräste sind es, wie überall. Der Abstich zwischen der Hitze der Täge und der Kälte der Nächte mag einem Deutschen sehr empfindlich sein; allein ein natürlicher Instinkt lehrte den Ungarn, sich mit warmer Kleidung dagegen zu verwahren, und der Deutsche hat nichts zu tun, um gegen diese Wirkung des Klima sicher zu sein, als die Landessitte nachzumachen. Die starken ungarischen Weine richten viele Fremden zugrund, aber noch weit mehr der unmäßige Genuß der vortrefflichen Früchte, besonders der schmackhaften, aber sehr schädlichen Melonen, wovon man an manchen Orten ein großes und schönes Stück um einige Kreuzer haben kann. In der schmachtenden Sonnenhitze, wo der Körper durch die starke Ausdünstung ohnehin geschwächt ist, sind diese Früchte der Gesundheit um so nachteiliger, da man sie hierzulande ganz ohne Brot zu essen pflegt. Gegen alle diese Gefahren müßten die Einwanderer nachdrücklich und umständlich gewarnt werden.
Mit dem kleinen Reisegeld, welches die Regierung denselben reichen läßt, ist ihnen wenig geholfen. Bares Geld sollte man ihnen sowenig als möglich in die Hände geben, weil sie es in einem ganz fremden Lande nicht wohl zu gebrauchen wissen oder verschwenden oder von eigennützigen Leuten leicht darum gebracht werden. Man müßte ihnen nach Beschaffenheit ihrer Bedürfnisse Holz zum Bauen, Vieh, Saatkorn und dergleichen mehr in natura geben und es zu einer besondern Pflicht der Beamten und Pfarrer machen, auf alle Art für die leiblichen und geistlichen Bedürfnisse der Kolonisten Sorge zu tragen. Aber die ungarischen Beamten und Pfarrer, überhaupt genommen, sind freilich jetzt noch keine Leute dazu. Sie würden von diesem Aufwand der Regierung mehr genießen als die Kolonisten. Der kaiserliche Hof äußerte auch bisher wenig Neigung, zum Anbau von Ungarn einen beträchtlichen Aufwand zu machen. Sein Grundsatz war von jeher, ernten zu wollen, ohne gesäet zu haben. Unterdessen hätte er mit dem Geld, das er auf die Eroberung des kleinen Stückes von Bayern verwendet, in kurzer Zeit wenigstens zehnmal soviel gewinnen können, wenn er es mit der nötigen Klugheit zum Anbau von Ungarn verwendet hätte.
Der größte Trost für einen ungarischen Patrioten ist, daß sein jetziger König die Verbindung seines Interesses mit jenem des Landes vollkommen kennt, den Wert der natürlichen Freiheit und die Menschen zu schätzen weiß, von keinem Vorurteil geblendet wird, sich von keinen verjährten Mißbräuchen die Hände binden läßt und Mut und Stärke genug hat, die herkulische Unternehmung zu bestehen und diesen so wichtigen Teil seiner Besitzungen aus der tiefen Wildheit zu reißen. Lebe wohl.
Ich habe dir in meinem letzten Brief gesagt, daß der hohe ungarische Adel ganz nach dem großen Ton lebt. Unsere Moden sind schon bis an die Grenzen der Moldau und Walachei vorgedrungen, und alles, was von Preßburg bis nach Kronstadt feine Welt heißt, spricht unser Patois 64 . Man ißt und trinkt nicht mehr ungarisch, sondern gibt Diners, Soupers und Dejeuners. Man gibt wechselweis Bal pare und Bal masque, und jede Stadt, worin vier bis fünf Familien von Ansehen beisammen sind, hat ihre Assembleen und Redouten. Man spielt Whist, hat Poudre a la Marechal, und die Damen bekommen Vapeurs. Die Buchhändler verkaufen den Voltaire in der Menge heimlich und die Apotheker den Merkurius 65 in der Menge öffentlich. Die Herren haben einen Ami de la maison 66 für ihre Frauen und die Frauen eine Fille de cbambre 67 für ihre Herren. Man hat Abbés zu Mäklern, Kuchen-, Keller- und Hofmeistern, man hat Komödien, Ballette, Opern, und, was bei allem dem das notwendigste ist, man hat Schulden über Schulden.
Als in den vierziger Jahren der ungarische Adel mit seinen Reisigen für seinen König Maria Theresia zu Felde zog, ergriff unsere Truppen bei dem ersten Anblick dieser fürchterlichen Armee ein panischer Schrecken. Sie hatten wohl kleine Streifkorps solcher Diables d'Hongrie 68 , wie sie sie nennten, schon öfters gesehen, allein eine ganze Armee derselben in Schlachtordnung, ungepudert vom General bis zum Gemeinen, die halben Gesichter mit Schnurrbärten bedeckt, eine Art runder Türme auf Köpfen anstatt der Hüte, ohne Manschetten, ohne Brustkrausen und ohne Federn, alle in rauhe Pelze eingehüllt, ungeheure krumme Säbel über der Stirne gezückt, unter denen durch das schwarze Gewölke der Bärte und Augenbraunen Blicke der Wut, schärfer als der Strahl der blanken Säbel, hervorblitzen - das war zu arg. Unsere alten Offiziere wissen noch genug davon zu erzählen, welchen Eindruck diese barbarische Armee auf unsere Leute machte und wie schwer es hielt, bis sie mit dem Anblick derselben bekannt wurden und ohne Herzpochen gegen sie standhielten.
Alles das hat sich seitdem geändert. Der ungarische Edelmann fängt nun an, den Schnurrbart abzulegen. Die Großen kleiden sich ganz französisch oder tragen wenigstens doch auf dem frisierten Haar einen Hut nach der Mode, welcher mit der übrigen barbarischen Kleidung, die aber in den Augen einer Kennerin von männlicher Schönheit viele Vorzüge hat, seltsam genug absticht. Während daß andere Mächte das Original der ungarischen Soldaten kopierten und der Husar ein wesentliches Glied der preußischen Armee und auch bei uns unter die regulierten Truppen aufgenommen worden ist, hat sich das wahre Original in seinem eignen Vaterlande verloren. Von den vierzehn oder fünfzehn Husarenregimentern des Kaisers, deren jedes 1.300 Mann stark ist, besteht kein einziges bloß aus gebornen Ungarn. Alle sind häufig mit Deutschen untermischt. Erfahrne Offiziers behaupten, diese Mischung wäre zum heutigen Dienst notwendig geworden, und ein Husarenregiment, welches durchaus aus Ungarn bestünde, wäre heutzutage fast ganz unbrauchbar. Seitdem die natürliche Stärke und Herzhaftigkeit unter kriegenden Parteien nichts mehr entscheiden und bloß der kaltblütige Gehorsam und die Übung in Wendungen und Handgriffen die Tugenden eines Soldaten ausmachen, verlor der Ungar alle seine militärischen Vorzüge. Er haßt den Zwang der Disziplin, der seine natürliche Lebhaftigkeit fesselt, und scheut, wie jeder wildere Mensch, die künstlichen Mordgewehre, gegen die all sein Mut und alle seine Stärke nichts vermag. Nur an der Seite eines kaltblütigen, nicht durch eigne Lebhaftigkeit, sondern bloß durch angewöhnten Gehorsam tätigen Deutschen hält der Ungar gegen ein anhaltendes und reguliertes Feuer stand. Erst wenn das Feuer nachläßt und er zum Einhauen kommen kann oder auf streifenden Vorposten erscheint er in seiner natürlichen Stärke. Aus dieser Ursache waren im letzten Schlesischen Krieg einige preußische Husarenregimenter den ungarischen fast allezeit überlegen, und in diesem Fall war die Kopie wirklich besser als das Original.
Der ungarische Adel wäre auch jetzt nicht mehr imstand, eine beträchtliche und nur einigermaßen fürchterliche Armee auf die Beine zu bringen und auf einige Zeit zu unterhalten. Die Esterházy, deren Besitzungen gegen 600.000 Gulden jährlich abwerfen, die Palffy, Csáky, Erdödy, Zichy, Forgách, Koháry, Károlyi und andere mehr, die alle beinahe 100.000 bis 200.000 Gulden Einkünfte haben, können, ihres ungeheuren Vermögens ungeachtet, kaum den Aufwand ihrer Häuser bestreiten, den ihnen seit vierzig Jahren die feine Lebensart und die Sitten des Hofes zu einem unumgänglich nötigen Bedürfnis gemacht haben. Der Hof glaubte sich durch diese Ohnmacht des Adels, die eine Folge des eingeführten Luxus ist, noch nicht sicher genug. Er hat einem großen Teil der sogenannten ungarischen Infanterieregimenter, die allzeit stark mit Deutschen vermischt sind, und auch einigen Husarenregimentern ihre beständigen Quartiere in Böhmen, Mähren und den deutschen Ländern angewiesen. Dagegen verlegte er viele deutsche Regimenter nach Ungarn, wie denn der größte Teil der schweren Kavallerie und der Dragoner in diesem Königreich liegt. Keine Provinz der österreichischen Erblande ist nach dem Verhältnis der Bevölkerung und des Ertrages so stark mit Truppen besetzt als Ungarn. Der geringste Preis der Lebensmittel für Menschen und Pferde mag wohl die Hauptursache dieser Einteilung gewesen sein, allein, bei dem Ausbruch eines Krieges an den deutschen Grenzen verliert der Hof in wenigen Wochen das, was er in vielen Friedensjahren dadurch erspart hat. Durch die weiten Märsche, welche die Kavallerie in aller Eile an ihren Bestimmungsort machen muß, wird oft die Hälfte der Pferde eines Regiments zuschanden geritten, ehe sie denselben erreichen, und ich glaube, der Entwurf, die Ungarn durch diese Verlegung mit den andern Untertanen des Erzhauses zu familiarisieren, ihren Nationalgeist zu dämpfen, sie durch die zahlreiche Armee, womit ihr Land angefüllt ist, an eine strenge Unterwerfung zu gewöhnen und allenfalls die Konsumtion des Königreiches und dadurch den Umlauf des Geldes zu vermehren, mag nicht wenig zu dieser Verteilung der Truppen beigetragen haben.
Die Engländer haben hierüber ganz andre Grundsätze. Es ist ihnen daran gelegen, den Nationalgeist ihrer Truppen soviel als möglich anzufeuern, weil das Interesse der Regierung mit jenen des Volkes gänzlich übereinstimmt und die Popularität ihrer Verwaltungsgrundsätze sie keine Meuterei von seiten desselben befürchten läßt. In der Überzeugung, daß der Provinzialgeist nur eine stärkere Anstrengung des Nationalgeistes ist, taten die klügsten ihrer Patrioten schon einigemal den Vorschlag, die Regimenter in die verschiedenen Grafschaften des Königreiches zu verteilen, ihre Werbungen bloß auf den Umfang derselben einzuschränken und jedes den Namen von der Grafschaft, worin es liegt und wirbt, tragen zu lassen. Sie hofften dadurch nicht sowohl die Werbungen zu erleichtern als vielmehr in jedem Regiment, welches nach Ausführung dieses Entwurfes durchaus aus Landsleuten einer und der nämlichen Grafschaft bestehen würde, den Esprit de corps 69 anzufeuern und es für das Vaterland mehr zu erwärmen. Dieser nützliche Plan wird nach aller Wahrscheinlichkeit auch sehr bald ausgeführt werden. - Der kaiserliche Hofkriegsrat würde ein Projekt von der Art nicht gut aufnehmen. Er hält es für notwendig, die Soldaten von ihrem Geburtsort zu entfernen und die Regimenter aus Untertanen verschiedener Provinzen zusammenzusetzen. - Verschiedene Ursachen haben verschiedene Wirkungen, und Swifts John Bull 70 muß andere Grundsätze haben als Esquire South 71 .
Keines der kaiserlichen Erbreiche hat eigentliche Nationaltruppen, nur die sogenannten Banat-Truppen, nämlich die Illyrier, ausgenommen, die nur für halbregulierte Soldaten gelten und deren Offiziers wenigstens doch größtenteils Deutsche oder Ungarn sind. In Kriegszeiten stellt jeder ungarische Edelmann nach der Größe seiner Güter eine gewisse Zahl Soldaten, oder er zahlt das Geld dafür, nach einem gewissen Anschlag, an die Kriegskasse. Diese Kontingente des Adels bilden selten besondere Korps, sondern werden gemeiniglich unter die schon stehenden Truppen untergesteckt. Überall sorgt man dafür, daß der Soldat von allen andern Verbindungen getrennt und bloß von der allgemeinen Seele der Armee, dem allmächtigen Stock, belebt werde.
Dieses Palladium der österreichischen Armee, den wundertätigen Stock, mußt du eben nicht im buchstäblichen Verstand nehmen. Vor nicht vielen Jahren wirkte er zwar noch mechanisch auf die große Maschine; allein, nachdem man sie einmal in einen gewissen Gang gebracht hatte, suchte man sie bloß durch Ehrfurcht und Andacht zu diesem Heiligtum in Bewegung zu erhalten. Nach einem Befehl des menschenfreundlichen Kaisers dörfen die Offiziers sowenig als möglich physischen Gebrauch davon machen. Im moralischen Verstande herrscht er noch in seiner ganzen Stärke. Die Idee davon vertritt bei dem gemeinen Soldaten die Vaterlandsliebe, den guten Humor, die Ehre, die Hoffnung der Beförderung und alle andere Empfindungen. Alle seine Betrachtungen drehen sich um diese Idee herum, und sein Q. C. D. und seine ganze Logik ist: Du mußt!
Ohne Widerrede sind Gehorsam und strenge Subordination die größte Stärke einer Armee. Sollten sich aber dieselben mit gar keinem Selbstgefühl des Subalternen und Untersten vertragen können? Ist der gute Willen des Gemeinen, die persönliche Tapferkeit und das Gefühl der Vaterlandsliebe und der Ehre bei einer Armee ganz entbehrlich? Gewiß nicht. Und wäre es auch bloß wegen dem Glück des gemeinen Mannes zu tun, wäre es auch bloß, um ihm sein hartes Schicksal erträglicher zu machen, so sollte man die Empfindungen, die ihm so manchen bittern Augenblick versüßen können und allein imstand sind, ihm in den Armen des Todes Mut einzuflößen, auf alle Art in ihm rege zu machen suchen.
Mit der Gewalt, welche nun die österreichische Regierung in Händen hat, würde sie nicht das geringste zu befürchten haben, wenn sie auf einen Schlag alle die nachteiligen Vorrechte des ungarischen Adels vernichtete, die mit dem Interesse des Ganzen im Streit liegen und die sie auf eine ihrer Würde und Stärke unanständige Art nach und nach mit List zu untergraben sucht. Einige hundert Familien würden einige Jahre lang murren; aber weiter als zum Murren käme es auch nicht. Der Bürger und Bauer würde für die Sache des Hofes stehn, weil sie seine eigne ist. Der Religionshaß, welcher ehedem den ehrgeizigen Absichten einiger Anführer zum Vorwand diente, erhitzt die Gemüter des Volkes nun nicht mehr so sehr, daß es gegen sein eignes Wohl geblendet würde. Durch ein grades und offenes Betragen würde der Hof das Zutrauen des Adels, welches er durch seine bisherigen Künsteleien immer mehr von sich entfernte, gar bald wiedergewinnen. Wenn die Rechte desselben, so wie sie dem Wohl des Ganzen entsprechen, deutlich bestimmt und von dem Hof nachdrücklich geschützt würden, so würde er patriotischer Tugenden fähig sein, da er im Gegenteil in der jetzigen Lage die Regierung als seinen Feind ansieht und nichts tut, als wozu er mit Gewalt oder Bestechung gebracht wird. Der große Haufen der Nation würde dann nicht mehr aus fühllosen Sklaven und der bessere Teil aus tückischen Despoten, Memmen und Hofschranzen bestehn. Und wenn denn der Hof den nötigen Aufwand und die erfoderliche Bemühung zu guten Erziehungsanstalten nicht scheute und die Geistlichkeit der verschiedenen Religionen ohne Parteilichkeit und ohne Bekehrungssucht zu ihrem Beruf zu bilden suchte, so würde schon in der nächsten Generation Ungarn unter die blühenden Reiche von Europa gehören. Der Ungar würde nicht mehr mitten in dem Überfluß, womit die Natur sein Vaterland überhäuft hat, arm und elend sein. Der ekelhafte Anblick des mit der schmachtenden Armut des Volkes so stark abstechenden Reichtums des Adels würde den Menschenfreund nicht mehr beleidigen. Dann würde der Hof an der Errichtung von Nationalregimentern bald Geschmack finden, weil der Plan seinem Interesse nicht widerspräche. Der lebhafte Ungar oder Kroate würde der Disziplin nicht mehr so abgeneigt sein, weil seine erwachte Vaterlandsliebe und sein Nationalstolz sie ihm erträglich machen und er für seine Pflichten Gefühl hat. Die Armee würde von einem Geist belebt werden, den auch der strengste Gehorsam nicht ersetzen kann und der sie in Verbindung mit diesem zugleich gefürchtet und glücklich macht.
Die Ungarn überhaupt sind von Natur ein vortrefflicher Schlag Leute zum Soldatenstand. Es fehlt ihnen nichts zur militärischen Vollkommenheit als die Ausbildung, die ihnen die Regierung geben muß. Die Kroaten haben besonders alle Anlage zu guten Soldaten. Ihre mittlere Größe ist sechs Fuß. Sie sind knochicht und fleischicht, behend, lebhaft und können Hunger und Wetter ausdauern. Besser gebildete Leute gibt es in Europa nicht. Aller dieser natürlichen Vorzüge ungeachtet, machen sie den schlechtesten Teil der kaiserlichen Armee aus. Ein offenbarer Beweis, daß die Regierung sie entweder vernachlässigt oder nicht auszubilden weiß. Man tat schon einigemal den Vorschlag, sie unter die übrigen Truppen zu vermischen; aber das hieße nichts anders tun wollen als ihre natürlichen Vorzüge zugrunde richten, um ihnen künstliche geben zu können. Ihre häusliche Lebensart, wodurch sich ihre körperliche Stärke erhalten hat, würde dadurch gar bald nachteilige Veränderungen leiden. In ihren Hütten wohnen öfters sechs bis sieben Familien beisammen unter einem Dach. Ihre nüchterne Lebensart erleichtert ihnen die Ernährung vieler Kinder. Sie heiraten frühe, in der Fülle ihrer Jugendkraft, und ihre Kinder sind das Gepräge ihrer ungeschwächten Mannheit. Ihre Säfte sind noch unverdorben, und die verderblichen Krankheiten, welche die Lebensquelle vergiften, sind noch nicht stark unter ihnen eingerissen. Die väterliche Herrschaft ist noch Sitte unter ihnen, und der Urgroßvater, welcher unter seinen zahlreichen Enkeln und Urenkeln wohnt, hat noch eine patriarchalische Gewalt über sie, wenn sie auch noch so sehr herangewachsen sind. Alles das dient dazu, ihre Sitten rein zu erhalten, und es käme bloß darauf an, ihre Pfaffen zu Menschen zu machen, so würden sie auch ohne Handlung, ohne Manufakturen und Künste, die man seit einiger Zeit zu ihrem Verderben unter ihnen einzuführen sucht, glücklich und dem Staat nützlich sein. Durch eine bessere Erziehung, die der Natur ihres Landes, ihrer besondern Verfassung und dem Vorteil des Staats mehr entspräche, würde sich nach und nach ihre natürliche Starrheit verlieren; sie würden desto biegsamer werden, je mannigfaltigere und deutlichere Begriffe sie von Religion, Ackerbau, Viehzucht und den Dingen bekämen, die mit ihrem Zustand verflochten sind. Diese Starrheit, eine natürliche Folge ihrer Wildheit, ist die einzige Ursache, warum sie der Disziplin so abgeneigt sind, und die häusliche Erziehung ist eine unumgänglich nötige Vorbereitung, sie gleich den deutschen Untertanen des Erzhauses zur militärischen Zucht und Ausbildung geschmeidig genug zu machen. Dieses ist der natürliche Weg, sie stufenweis aus ihrer Wildheit zu ziehn und zu guten Bürgern zu bilden, ohne ihre eigentümlichen Vorzüge zu verderben.
Man nehme an, der Hof würde den Plan ausführen und sie unter seine übrigen Truppen mischen. Man würde sie natürlich in ihren besten Jahren, wo der Naturtrieb am heftigsten ist, zum Dienst ziehn. Hingerissen zu all den Ausschweifungen, die unter einer stehenden Armee zu herrschen pflegen, würden sie ihre besten Säfte, die Jugendblüte, in verderblicher Wollust verschwenden. Geschwächt oder mit dem Gift der Wollust angesteckt, kommen sie nach der Dienstzeit in ihr Vaterland zurück. Sie lernten Bedürfnisse kennen, die zuvor in ihrem Vaterlande fremd waren. Sie haben an dem ehelosen Stand, der zuvor so selten unter ihnen war, Geschmack gefunden. Sie heiraten nicht oder doch später als ihre Voreltern. Ihre alte häusliche Ordnung wird getrennt, und die Treue ihrer Weiber verliert sich. Ihre Kinder werden ihnen zur Last, und es ist hundert an eins zu wetten, daß sie in der zweiten Generation nicht mehr zu erkennen und in der dritten oder höchstens in der vierten von den übrigen kaiserlichen Untertanen in Größe, Stärke, Schönheit und Nüchternheit gar nicht mehr unterschieden sein werden. Diese Vermischung wäre ein gewalttätiger Sprung, den die Regierung mit ihnen aus dem Stand der Wildheit auf eine hohe Stufe des verfeinerten Lebens tun wollte. Sie müßten sich dabei ein Glied verrenken oder gar den Kopf einstoßen.
Ich gab mir bisher alle Mühe, um den Wert der Güter kennenzulernen, die jährlich in Ungarn ein- und ausgeführt werden, um mir einen deutlichen Begriff von dem Nationalreichtum zu machen. Entweder trägt man die Mautregister, die einzeln mit ziemlich viel Genauigkeit gemacht werden, nicht ordentlich zusammen und macht keine Auszüge daraus, oder man sucht sie geheimzuhalten.
Alles, was ich dir also hierüber sagen kann, beruht auf Mutmaßungen und Sagen. Ein dem Anschein nach glaubwürdiger Mann versicherte mich, der Wert der ganzen Ausfuhr des Königreichs betrüge ohngefähr vierundzwanzig und der Wert der Einfuhr nur ohngefähr achtzehn Millionen Gulden. Bei diesem Anschlag sind die bloß durchgehenden Güter abgezogen. Gegen den Wert der Ausfuhr kann ich nichts ganz Positives einwenden, denn, wie gesagt, ich konnte nichts Bestimmtes herausbringen. Mir scheint die Angabe, insoweit ich nach meinem sehr unvollkommenen Überschlag urteilen kann, immer merklich übertrieben. Aber das gegenseitige Verhältnis der Ein- und Ausfuhr will mir noch weniger einleuchten. Ich kann nicht begreifen, wohin sich der große Überschuß an Geld verkriechen sollte, der auf die Art in Ungarn strömte, ohne einen sichtbaren Ausfluß zu haben. Mit diesem Übergewicht der Handlung müßte Ungarn eins der reichsten Länder in Europa sein. Und doch ist in diesem Königreich nichts seltener als das Geld. Von den zwanzig Millionen Gulden, welche das Land samt Siebenbürgen und Illyrien in allem der Regierung eintragen soll, kommen doch höchstens nur drei Millionen nach Wien, und das, was die wenigen außer dem Königreich wohnenden adeligen Familien aus dem Reiche ziehen, wird durch die Gegenwart so vieler Offiziers und Zivilbedienten, die in andern Provinzen Güter besitzen und den Ertrag davon in Ungarn verzehren, reichlich wieder ersetzt. Es bliebe also für Ungarn doch noch manche Million jährlich übrig, und wenn sich dieses glückliche Übergewicht des Handels auch erst seit fünf Jahren herschriebe, so müßte man schon mehr Blut in dem Körper des Reichs verspüren.
Wenn man die Menge der Waren betrachtet, die Ungarn jährlich von den Ausländern bezieht, so wird man es platterdings unglaublich finden, daß es in der Handlung das Gleichgewicht haben könne. Fast alle Kunstprodukten bekömmt es, nebst einer erstaunlichen Menge natürlicher Erzeugnisse, von den Fremden. Nur bloß für Tücher gibt es jährlich vier bis fünf Millionen Gulden aus. Für Seidenzeuge, Leinwande, Baumwollenzeuge und dergleichen mehr läßt es wenigstens fünf Millionen Gulden jährlich ausfließen. Für rohes und verarbeitetes Zinn, Glas, Sackuhren, Farbmaterialien, Apothekerwaren und dergleichen mehr bezahlt es jährlich den Fremden auch einige Millionen, und der Kaffee und Zucker kosten es das Jahr durch wenigstens zwei und eine halbe Million. Hier sind alle Gattungen der Galanteriewaren, fremde Weine für die leckerhaften Großen, die mit ihren vortrefflichen vaterländischen Weinen nicht vorliebnehmen wollen, ausländische Pferde, Kutschen, Geschirre und noch unzählige andre Artikel nicht mitgerechnet. Die natürlichen Produkte, die es den Fremden dagegen gibt, können diese ungeheure Summe lange nicht aufwiegen. Nach einem ziemlich wahrscheinlichen Überschlag verkauft Ungarn jährlich den Fremden für ohngefähr fünf und eine halbe Million Gulden Vieh, nämlich Ochsen, Schweine und Pferde, für vier Millionen Gulden Getreide, Heu und dergleichen mehr, für drei Millionen Gulden Wein, für eine halbe Million Tobak, Seide (meistens aus Slawonien), Zitronen, Kastanien und andre Früchte, für einige Millionen Mineralien, besonders Kupfer, und wenn ich den Anschlag überhaupt nach meinen verschiedenen Erkundigungen in einzeln Artikeln machen sollte, so würde ich den ganzen Wert der Ausfuhr (die durchpassierenden Waren allzeit abgerechnet) ohngefähr auf sechzehn und den Wert der Einfuhr wenigstens auf achtzehn Millionen Gulden setzen.
Ich glaube Ungarn nicht zuviel zu tun, wenn ich es in meinem Anschlag jährlich seine zwei Millionen verlieren lasse. Seine Lage und die Anstalten der Regierung wehren ihm, seine natürliche Schätze völlig geltend zu machen, und bei einem fast durchaus herrschenden hohen Grad von Luxus, der bei den Großen unbeschreiblich hoch ist, hat es nicht einmal so viel Industrie, daß es sich die Kunstprodukte, wozu ihm die Natur alle Gelegenheit darbietet, selbst verfertigen sollte. Ich habe dir gesagt, welche ungeheure Summe Geldes es jährlich für Tücher ausgibt, und doch ist kein Land in Europa, welches der Schafzucht günstiger wäre als dieses. Prinz Eugen, der ein ebenso großer Staatsmann und Beschützer der Künste und Wissenschaften als Held war, sah die Vorteile ein, die das Land von der Schafzucht ziehen könnte. Er ließ Schafe aus Arabien kommen und gab sich alle Mühe, ihre Fortpflanzung in der Gegend von Ofen zu befördern und auszubreiten. Kaiser Karl der Sechste und Kaiser Franz machten ähnliche Versuche, allein sie waren nicht glücklich. Der Adel war bisher zu stolz, zu träge und zu verschwenderisch, als daß er sich mit der Landwirtschaft hätte abgeben sollen, und der Bauer hat kein Eigentum. Solange der Adel im Besitz des größten Teils der Ländereien im Königreich bleibt und keine bessere Erziehung bekömmt, werden alle Versuche, den Kunstfleiß auf dem Lande auszubreiten, eitel sein, und der Bürger in den Städten ist teils durch Religionsbedrückungen niedergeschlagen, teils durch den eingerissenen Luxus verdorben worden.
Die Nachlässigkeit der Polizei, den Strom des Luxus zu hemmen, ist unbegreiflich. Oft schon bin ich versucht worden zu glauben, die Regierung achte es nicht der Mühe wert, ihre Aufmerksamkeit auf dieses Reich zu wenden, weil der Ertrag der Größe desselben nicht entspricht, oder das hitzige Temperament des Hofes sei nicht aufgelegt, Verbesserungen vorzunehmen, die erst nach einigen Generationen Früchte tragen würden, und er sei daher mehr geneigt, durch eine gewaltsame Anstrengung dieses Land zu benutzen, als, dem gewöhnlichen Gang der Natur gemäß, erst den Grund zu einem dauerhaften Gebäude zu legen, dessen Vollendung zu erleben der regierende Fürst sich nicht versprechen kann. Von den vielen Zügen dieser Nachlässigkeit, die ich bemerkt habe, will ich nur eines erwähnen. Ungeachtet der tiefen Armut des Landvolks läßt man die Juden und Raizen öffentlich mit Zucker und Kaffee von Dorf zu Dorf das ganze Land durchziehn. Ihre Ware ist um so verführischer und der Verkauf um so schädlicher, da sie diesen entbehrlichen Artikel des Luxus nicht ordentlich auswiegen, sondern in kleinen Portionen, die schon in Papierchen eingepackt sind, zu zwei, drei, vier und mehrern Kreuzern verkaufen. Sie schlagen keine Buden auf, sondern gehn von Haus zu Haus und bieten allem Witz, aller Beredsamkeit und allen Kniffen auf, um den Bauern ein Päckchen aufzuhängen, der sich denn um so leichter verführen läßt, da der Verkäufer öfters Brot, Wein, Eier, Butter, Käs oder solche Sachen dagegen nimmt, womit der Bauer überflüssig versehen ist. Mit diesen eingetauschten Artikeln treibt dann der Jude wieder einen besondern Handel, wobei er gemeiniglich doppelt gewinnt. Auf die nämliche Art wird der Landmann mit Tobak, Öl, Ingwer, Pfeffer und andern Artikeln versehen, die gewöhnlich zur Hälfte mit Mäusedreck und ähnlichen Zusätzen vermischt sind. Auch die Quacksalber überziehn auf diese Art die Dörfer, obschon die Polizei seit einiger Zeit ein Auge auf sie hat. Ich weiß nicht, ob ihr Vertrieb dem Lande schädlicher ist als jenes der Juden und Raizen.
Das Klima vom südlichen Teil des ungarischen Reiches wäre dem Seidenbau ebenso günstig als jenes der Lombardei, von Piemont und dem Venezianischen; allein während daß er unter dem britischen Himmel, ja sogar in dem rauhen Schweden durch den Fleiß der Einwohner in Aufnahme kömmt, wird er in einem Land vernachlässigt, wo die Natur die Menschen dazu auffodert, wo sie das Beispiel der benachbarten Venezianer dazu ermuntern sollte und wo man die nötigen Maulbeerbäume so leicht aus Italien haben kann. In Slawonien und einigen andern Gegenden wird zwar etwas Seide gewonnen, allein im ganzen ist der Seidenbau noch kein Schatten von dem, was er sein könnte.
Nichts von allem dem, was Kunstfleiß heißt, ist in diesem Lande zu einiger Vollkommenheit gebracht als der Bergbau. Die Leichtigkeit, womit durch denselben große Summen können gewonnen werden, hat ihn vorzüglich in Aufnahm gebracht. Alles, was die Mathematik zum Behuf desselben beitragen kann, ist hier getan worden. Man erstaunt über die Maschinen, womit teils das Wasser aus den Gruben gebracht und teils die Ausbeute und Förderung des Erzes erleichtert wird. An den Gold- und Silberbergwerken zu Kremnitz und Schemnitz gewinnt der Hof fast nichts. Einen Teil derselben läßt er auf seine eigene Rechnung bauen und verliert dabei ein beträchtliches. Dieser Verlust wird wieder durch die Abgaben ersetzt, den einige Gesellschaften oder Privatleute für den Teil der Werke entrichten müssen, die sie bauen. Der Hof muß seinen Eigensinn, einen Teil der Gruben selbst zu bauen, teuer genug bezahlen, und aller Vorstellungen ungeachtet war er bisher nicht dahin zu bringen, seine Werke gegen gewisse Prozente an Gesellschaften zu überlassen, wobei er zuverlässig gewinnen würde. Unterdessen beträgt der Wert des Goldes und Silbers, welches jährlich in diesen Gegenden gewonnen wird, einige Millionen. Außer denselben sind in dem eigentlichen Ungarn noch mehrere Gold- und Silberminen; allein, die Silber- und Goldbergwerke in Siebenbürgen sollen sie alle zusammen, wenigstens nach Verhältnis des reinen Gewinstes, seit einiger Zeit weit übertreffen und für die Zukunft noch mehr versprechen. Demungeachtet glaube ich, daß der Hof an den Kupferwerken dieses Reiches mehr gewinnt als an dem Gold und Silber, besonders da der neueingeführte Gebrauch, die Kriegsschiffe mit Kupfer zu beschlagen, den Wert dieses Metalls so sehr erhöht hat. Ungarn wäre imstand, ganz Europa mit dem nötigen Kupfer zu versehen. Von den vier Millionen Gulden, die ohngefähr den jährlichen reinen Gewinn des Hofes von allen Bergwerken seiner Lande ausmachen, kömmt ohngefähr die Hälfte auf Ungarn.
Das Land hat eine sonderbare Gestalt. Ringsum ist es von hohem Gebirge eingeschlossen, und in der Mitte gibt es Ebenen, wo man einige Tagreisen machen kann, ohne nur einen beträchtlichen Hügel zu sehn. Man findet ungeheure Heiden und in denselben, wie in den tatarischen Steppen, wilde Pferde. Die Wälder sind mit Wölfen angefüllt, die nun durch ganz Schwaben, Bayern und Österreich unter die fremden oder doch höchst seltenen Tiere gehören. Die Ufer der Flüsse in den Ebenen sind Moräste, die hie und da Seen bilden, und die Austrocknung derselben wird mit der Zeit ein unschätzbarer Gewinn für das Land sein. Die Flüsse würden dadurch schiffbarer gemacht, große Strecken Landes gewonnen, und die Luft würde gereinigt werden. Alle Gattungen der Tiere sind von jenen in Deutschland sehr verschieden. Der gemeine Schlag der Pferde ist klein, leicht und eben nicht schön, allein sie sind ungemein lebhaft und stark. Mit drei bis vier Pferden fährt dich ein Ungar von Wien bis nach der Türkei in beständigem Trott oder Galopp. Unterdessen ist ihre Zucht durch angelegte Stutereien der Edelleute in vielen Gegenden sehr gebessert worden. Das Land liefert die meisten Pferde für die kaiserlichen Husaren und sehr viel für die Dragoner. Die Ochsen sind die größten und von Bau die schönsten, die ich je gesehen. Von Farbe sind sie durchaus aschgrau und weiß, und ich erinnere mich nicht, nur einen roten oder braunen gesehn zu haben. Ihr Fleisch ist sehr schmackhaft. Auch das Federvieh unterscheidet sich von dem in andern Ländern durch seine Gestalt und Größe. Alles, was lebt, verrät entweder durch Lebhaftigkeit oder durch seinen Wuchs einen starken Trieb der Natur.
Die künstliche Gestalt des Landes ist ebenso sonderbar als die natürliche. Bald erblickt man Paläste, in denen Pracht, Geschmack und Überfluß herrschen, bald kömmt man in Gegenden, wo die Menschen gleich den Tieren in unterirdischen Höhlen oder wie die Kalmücken in Zelten wohnen. In den Städten Preßburg, Pest und Ofen, welche die größten des Reiches sind und deren jede gegen 30.000 Menschen enthält, glaubt man in einem sehr kultivierten Lande zu sein, und einige Meilen vor den Toren derselben glaubt man sich wieder in die Mongolei versetzt.
Der größte Beweis, daß ein Land unglücklich ist, ist der Abstich 72 großer Pracht mit tiefer Armut, und je stärker dieser Abstich ist, desto unglücklicher ist das Land. Ein Volk kann durchaus arm und doch glücklich sein; aber wenn man unter einem Haufen Strohhütten, die ihre Einwohner kaum gegen Wind und Wetter decken, hie und da himmelhohe Marmorpaläste emporragen und mitten in ungeheuern Wildnissen, worauf ein Schwarm skelettierter Menschen Wurzeln sucht, um sich den Hunger zu stillen, Gärten mit Fontänen, Grotten, Parterren, Terrassen, Statuen und kostbaren Gemälden sieht, so ist das ein Beweis, daß ein Teil der Einwohner vom Raub des andern lebt.
Nicht lange nach meiner Ankunft allhier machte ich eine Lustreise nach dem Residenzschloß des Fürsten Esterházy, welches ohngefähr eine Tagreise von Preßburg entlegen ist. Ohne Zweifel kennst du den Ort schon aus Moores Reisebeschreibung. Vielleicht ist außer Versailles in ganz Frankreich kein Ort, der sich in Rücksicht auf Pracht mit diesem vergleichen ließe. Das Schloß ist ungeheuer groß und bis zur Verschwendung mit allem Geräte der Pracht angefüllt. Der Garten enthält alles, was die menschliche Einbildungskraft zur Verschönerung oder, wenn du willst, zur Verunstaltung der Natur ersonnen hat. Pavillons von allen Arten sehen wie die Wohnungen wollüstiger Feen aus, und alles ist so weit über dem gewöhnlichen Menschlichen, daß man beim Anblick desselben einen schönen Traum zu träumen glaubt. Ich will mich in keine umständliche Beschreibung all der Herrlichkeit einlassen, aber das muß ich dir im Vorbeigehn doch bemerken, daß wenigstens das Auge eines Unkenners, wie ich bin, hie und da sehr beleidigt wird, weil die Kunst zu viel getan hat. Ich erinnere mich, die Wände einer Salla Terrena 73 mit Figuren bemalt gesehen zu haben, die wenigstens ihre zwölf Schuh hoch waren und, da die Sala nicht geräumig genug war, sie nach dem menschlichen Verhältnis ins Auge zu fassen, ein Erdensöhnchen meiner Art seine Kleinheit gar zu sehr fühlen ließen. Ich weiß, du bist für den großen Stil, und ich erinnerte mich beim Anblick dieser Riesenfiguren alles dessen, was du meinen profanen Ohren von der Theorie der römischen Schule, ihren großen Umrissen usw. vorgeschwätzt hattest, aber ich bin gewiß, wenn du diese abenteuerlichen Figuren gesehen hättest, du würdest mir eingestanden haben, daß der große Stil hier übel angebracht ist.
Was die Pracht des Orts ungemein erhöht, ist der Abstich desselben mit der umliegenden Gegend. Öder und trauriger läßt sich's nicht denken. Der Neusiedler See, wovon das Schloß nicht weit entfernt ist, macht meilenlange Moräste und droht alles Land, bis an die Wohnung des Fürsten hin, mit der Zeit zu verschlingen, wie er denn schon ungeheure Felder, die angebaut waren und den ergiebigsten Boden hatten, verschlungen hat. Die Bewohner des angrenzenden Landes sehen größtenteils wie Gespenster aus und werden fast alle Frühjahre von kalten Fiebern geplagt. Man will berechnet haben, daß der Fürst mit der Hälfte des Geldes, welches er auf seinen Garten verwendet, nicht nur die Moräste hätte austrocknen, sondern auch noch einmal soviel Land dem See entreißen können. Da der Zufluß des Sees immer häufiger und der Abfluß geringer wird, so ist die Gefahr, womit das sehr niedrige Land umher bedroht wird, wirklich sehr groß. Es käme nur darauf an, durch einen Kanal das überflüssige Wasser in die Donau abzuleiten, welche Unternehmung die Kräfte des Fürsten eben nicht übersteigt und ihm in den Augen gewisser Leute mehr Ehre machen würde als sein prächtiger Garten. Auf der andern Seite des Schlosses braucht man keine Tagereise zu machen, um Kalmucken, Hottentotten, Iroken 74 und Leute von Terra del Fuego 75 in ihren verschiedenen Beschäftigungen und Situationen beisammen zu sehen.
So ungesund auch die Gegend, besonders im Frühling und Herbst, ist und sooft auch der Fürst selbst vom kalten Fieber befallen wird, so ist er doch fest überzeugt, daß es in der ganzen weiten Welt keine gesundere und angenehmere Gegend gebe. Sein Schloß steht ganz einsam, und er sieht niemand um sich als seine Bedienten und die Fremden, welche seine schönen Sachen beschauen wollen. Er hält sich ein Marionettentheater, welches gewiß einzig in seiner Art ist. Auf demselben werden von den Puppen die größten Opern aufgeführt. Man weiß nicht, soll man staunen oder lachen, wenn man die "Alceste", den "Hercole al bivio" und andere mehr mit der ernsthaftesten Zurüstung von Marionetten spielen sieht. Sein Orchester ist eins der besten, die ich je gehört, und der große Haydn ist sein Hof- und Theaterkompositeur. Er hält sich für sein seltsames Theater einen Dichter, dessen Laune in Anpassung großer Gegenstände auf seine Bühne und in Parodierung ernsthafter Stücke oft sehr glücklich ist. Sein Theatermaler und Dekorateur ist ein vortrefflicher Meister, ob er schon sein Talent nur im Kleinen zeigen kann. Kurz, die Sache selbst ist klein, aber alles Äußere derselben ist groß. Oft nimmt er eine Truppe fahrender Schauspieler auf einige Monate in Sold, und nebst einigen Bedienten macht er das ganze Auditorium derselben aus. Sie haben die Erlaubnis, ungekämmt, besoffen, unstudiert und in halber Kleidung aufzutreten. Der Fürst ist nicht für das Tragische und Ernsthafte, und er hat es gerne, wenn die Schauspieler, wie Sancho Pansa, ihren Witz etwas dick fallen lassen. Nebst dem ungeheuern Schwarm der übrigen Bedienten hält er sich auch eine Leibwache, die aus sehr schönen Leuten besteht.
Sehr leid tat es mir, daß ich den berühmten Haydn nicht sprechen konnte. Er war nach Wien gereist, um ein großes Konzert zu dirigieren. Man sagt, der Fürst habe ihm erlaubt, eine Reise nach England, Frankreich und Spanien zu machen, wo er von seinen Bewunderern mit der verdienten Hochachtung wird empfangen und seine Börse reichlich angefüllt werden. Er hat einen Bruder, welcher Kapellmeister zu Salzburg ist und ihm in der Kunst nichts nachgibt; allein es fehlt diesem an Fleiß, um sich zu dem Ruhm seines Bruders emporzuschwingen.
1franz. - gemeinschaftliche Tafel
2Griechisch-orthodoxe Serben
3ungarische Soldaten
4Don Quichote
5ein Meereswirbel in Homers "Odyssee"
6lat. -sich über nichts wundern
7verbotenes Buch, das entschädigungslos eingezogen wird
8Wirt einer Speisegaststätte
9Bequemlichkeit
10Konstantinopel, das Osmanische Reich
11Muette - frz. Karwoche
12frisiert
13"Mein Gott, die Syphilis hat mich bis auf die Knochen zerfressen"
14die beste aller möglichen Welten - eine Antwort der Catholica auf das Theodizeeproblem, Gott habe eine schlechte, aber immerhin die beste aller möglichen Welten geschaffen
15Jean-Jacques Rousseau, frz. Philosoph, + 1778
16italienische bzw. schweizerische Landschaften
17durch Bearbeitung ein gutes Aussehen geben
18Verdauungsstörungen
19Mundart
20vom Tage
21griechisch-antike Imitation
22"Wir sind nur Nullen, geboren, die Früchte der Erde zu essen." (Horaz)
23englischer Reiseschriftsteller, + 1802
24Aspasia - geistvolle Kurtisane im antiken Athen
25der römische Kaiser Augustus
26der Vorwand des Unechten
27Prinz Eugen von Savoyen, österreichischer Feldherr und Staatsmann, +1736
28Erzbischof von Paris
29hier: Huren
30Polizeispitzel
31Zoten
32spart[an]isch
33Londoner Stadtviertel
34Trastevere, römischer Stadtteil
35frz. - umso schlimmer
36eine Fraktion des englischen Parlaments
37einschmeichelnd, höflich
38frz. - Vorzimmer
39Steigerungen
40Besoldung
41Brot und Spiele
42Privatmann, der von seinem Vermögen lebt
43Brechweinstein und Waschbecken
44klassizistische offene Halle
45Mönchsorden
46Bußgürtel
47Weinsorten
48Reformkonzil des 16. Jahrh. Stellte die Rechtfertigungs- und die Transsubtitutionslehre auf, schuf die Siebenzahl der Sakramente, den Index der verbotenen Bücher und erklärte die Vulgata zur alleingültigen Bibelübersetzung.
49Schelmereien
50Hüfttasche
51Liebhaber
52Name eines Romans von Voltaire (Der Mann von vierzig Talern)
53Einfachheit, Bescheidenheit
54Mätresse des franz. Königs Ludwig XV.
55feierliche Anrede
56Weinsorten
57Großhändler
58alle zusammen
59Rousseau "Der Gesellschaftsvertrag"
60franz. Kardinäle, leitende Minister unter Ludwig XIII. und XIV.
61Nationalcharakter
62ungarische Adlige
63treuhänderische Übernahme
64Mundart, Sprache
65Quecksilberpräparate gegen die Syphilis
66Hausfreund, Liebhaber
67Kammermädchen
68ungarische Teufel
69Korpsgeist
70der Engländer
71Hochwohlgeboren aus dem Süden
72Kontrast
73Sala Terrena - Tempel oder Pavillon auf einer Anhöhe
74Irokesen
75Feuerland